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Tochter des Ratsherrn

Tochter des Ratsherrn

Titel: Tochter des Ratsherrn
Autoren: J Tan
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und Johannes wurde es damals freigestellt, in Hamburg zu bleiben oder mit ihr zu gehen. Anfänglich hatten beide es vorgezogen, die Stadt zu verlassen, doch Godeke war ihr nach kurzer Zeit abtrünnig geworden. Er hatte sich seiner Wurzeln besonnen und war reumütig zu seiner Mutter Ragnhild und seinem Vater Albert zurückgekehrt. Seither lebte Luburgis mit Johannes versteckt und geächtet im Wald. Ihr altes Leben als Frau eines angesehenen Ratsherrn war für alle Zeit vorbei. Niemals mehr würde sie ein schönes Kleid tragen, niemals mehr eine Kirche von innen sehen, niemals mehr zurückkehren können. Häufig schon hatte sie sich heimlich an den Waldrand geschlichen, nur um die Stadtmauer oder die Spitze des Doms eine Weile betrachten zu können. Weiter durfte sie sich nicht wagen, sonst wäre sie des Todes. Alles, was ihr von ihrem alten Leben geblieben war, befand sich in dieser Hütte. Ein paar Kleider, die heute nicht viel mehr als bloße Lumpen waren, ihre Schwägerin Heseke, die sie mit Essen und Kunde aus der Stadt versorgte, und Johannes, der in genau diesem Moment ihre ärmliche Behausung betrat.
    »Tante Heseke, gut, dass du uns wieder besuchen kommst. Wir leiden seit Tagen Hunger.«
    Heseke drehte sich um und schaute verächtlich auf den dürren, abgerissenen Kerl vor sich. »Diese Begrüßung sieht dir ähnlich. Hast du denn schon wieder nichts für den Kochtopf deiner Mutter gefangen?«, fragte sie streng.
    »Nein, habe ich nicht«, antwortete dieser schuldbewusst und senkte den Kopf. Seine piepsige Stimme verwandelte sich in ein trotziges Gemurmel. »Ich kann bei diesem Wetter nicht jagen. Es ist kalt, und der Schnee blendet mich.«
    »Was soll das heißen, bei diesem Wetter ?«, gab Heseke schroff zurück. »Ich bezweifle, dass du in deinem Leben überhaupt schon einmal etwas erlegt hast, das nicht sowieso im nächsten Moment vor Krankheit oder Schwäche tot umgekippt wäre, du Nichtsnutz.«
    Johannes lief vor Scham rot an, erwiderte jedoch nichts. Es wäre sinnlos gewesen – gegen seine resolute Tante war er machtlos.
    »Ach, Heseke, sei doch nicht so streng zu dem Jungen«, versuchte Luburgis zu schlichten. »Erzähle mir lieber, ob es Neuigkeiten aus der Stadt gibt.«
    Heseke wandte sich von Johannes ab, atmete tief ein und wieder aus und versuchte zu ignorieren, dass Luburgis ihren einundzwanzigjährigen Stiefsohn mal wieder ihren Jungen nannte, als wäre er ein kleines Kind. Dann sagte sie: »Ja, es gibt tatsächlich Neuigkeiten aus der Stadt. Graf Gerhard I. ist tot.«
    Luburgis’ Augen verengten sich umgehend zu schmalen Schlitzen. »Soso. Was du nicht sagst«, zischte sie mit einem boshaften Unterton. »Endlich mal erfreuliche Nachrichten.«
    Heseke wusste, dass es nicht der Graf war, der das Interesse der Schwägerin weckte. Weder seine Todesumstände noch die Nachfolge waren für sie von Belang. Vielmehr freute sich Luburgis über die Veränderungen, die sein Tod mit sich bringen würde. Ihre alten Feinde Albert und Ragnhild waren Günstlinge des Grafen gewesen. Jetzt, nach seinem Tode, war nichts mehr sicher. So war es immer, wenn ein Herrscher starb. Manchmal wurden sich die Günstlinge mit den Nachfolgern einig, sodass Einfluss und Ansehen unangetastet blieben, manchmal jedoch blieb ihnen die Gunst des Nachfolgers verwehrt. Sollte Letzteres eintreten, würde mit den von Holdenstedes endlich das passieren, was sich Luburgis, Heseke und Johannes vom Berge am meisten wünschten: Sie würden in Ungnade fallen und wären dann ein leichtes Ziel für sie. Alles Handeln in den letzten sechs Jahren, jeder Schritt, jeder Atemzug wurde stets begleitet von diesem unauslöschlichen Wunsch nach Rache. Viel zu lange warteten die drei Überlebenden des alten Geheimbundes schon darauf, beenden zu können, was sie damals begonnen hatten. Nun schien die Gelegenheit günstig zu sein.
    Nachdem sich Heseke verabschiedet hatte, um noch vor Anbruch der Dunkelheit und vor allem vor der Schließung der Stadttore zurück zu sein, flüchtete Luburgis sich in ihre Gedanken. In ihr hatte sich eine unglaubliche Ruhe ausgebreitet. Ihr sonst so eintöniges, sinnloses Leben im Wald erfüllte auf einmal wieder einen Zweck. Auch wenn sie mittlerweile einundfünfzig Jahre alt war, wusste sie, dass ihre Seele erst zur Ruhe kommen würde, wenn sie all ihren Dämonen die Stirn geboten hatte.
    Ihr Gemahl Conrad hatte seine Strafe schon erhalten. Nachdem er ihr vor vielen Jahren mit seinen Fausthieben das Gesicht entstellt
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