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Tochter des Ratsherrn

Tochter des Ratsherrn

Titel: Tochter des Ratsherrn
Autoren: J Tan
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folgte dem Blick seines Reisegefährten, doch alles, was sie sahen, waren die anderen Männer, die durch die vielen Lagen Kleidung allesamt etwas fettleibig aussahen. Ihre Mützen hatten sie so tief in ihre Gesichter gezogen, dass ihre Augen kaum mehr zu erkennen waren. »Da war nichts. Es ist der Wald. Er täuscht einem Geräusche vor«, entschied der Mann.
    »Vermutlich habt Ihr recht.«
    Gerade als sie sich beide wieder umdrehen wollten, blieben ihre Blicke an dem letzten Reiter der Gruppe hängen. Mit jedem Schritt, den sein Pferd tat, rutschte sein Körper ein Stück weiter zur Seite. Der Anblick war so grotesk, dass zunächst weder Godeke noch der andere Kaufmann etwas dazu sagten. Erst als der Mann wie ein nasser Sack aus dem Sattel glitt und mit einem vom Schnee gedämpften Geräusch zu Boden plumpste, zügelten sie ihre Pferde und zwangen so auch die anderen zum Anhalten.
    »Was ist los?«, fragte einer der Kaufleute erstaunt.
    »Lutold ist gestürzt«, antwortete Godekes Nebenmann. »Sicher die Kälte, der jammert doch schon seit Tagen, dass er friert.«
    »Kommt, wir legen ihn zurück auf sein Pferd. Später am Feuer wird er schon wieder wach.«
    Doch noch bevor die Kaufleute absteigen konnten, war Godeke von seinem Pferd gesprungen und zu dem Mann geeilt, der noch immer reglos mit dem Gesicht im Schnee lag. Gerade als er ihn umdrehen wollte, machte Godeke eine Entdeckung. Neben dem Kopf des Fremden breitete sich eine immer größer werdende rote Pfütze aus, die den Schnee um ihn herum augenblicklich zum Schmelzen brachte.
    Godeke wich zurück und hob ruckartig den Kopf in Richtung Wald. Noch während er mit einer Hand nach seinem Dolch griff, rief er in befehlendem Ton: »Sofort auf die Pferde! Das ist nicht die Kälte, das ist ein Überfall!«
    Schon wenige Schritte nachdem sie die Stadt verlassen und den Wald betreten hatte, taten Heseke die Beine weh. Als Frau eines Ratsherrn war sie es nicht gewohnt, so lange zu laufen – schon gar nicht bei diesem Wetter.
    Es war zwei Tage vor Weihnachten, und der Himmel zeigte sich überzogen mit dicken weißen Wolken, die nur darauf warteten, ihre Fracht zur Erde rieseln zu lassen. Je tiefer sie in den Wald vordrang, desto höher schien der Schnee zu liegen. Sie kam nur langsam voran. Bei jedem Schritt musste sie ihren Fuß zunächst aus der weißen Masse herausziehen, weit ausholen, um dann erneut knietief darin zu versinken. Trotz des guten Schuhwerks waren ihre Füße nach kurzer Zeit durchnässt und schmerzten vor Kälte. Zu der Kälte kam die Angst. Immer wieder vernahm sie das Heulen eines Wolfes oder ein Knacken im Geäst, und jedes Mal schien ihr Herz einen Schlag auszusetzen.
    Nach einer schieren Unendlichkeit sah sie endlich ihr Ziel. Friedlich, fast schön lag die Hütte vor ihr. Selten zuvor hatte sich Heseke so sehr darauf gefreut.
    Wie immer trat Luburgis aus der Tür, bevor ihr Besuch auch nur die Schwelle erreicht hatte. Heseke war nicht überrascht, hatte ihr die Schwägerin doch einst erzählt, das stille Leben im Wald schärfe das Gehör.
    »Heseke! Dich schickt der Himmel. Ich habe die letzten Tage schon sehnsüchtig auf deinen Besuch gewartet. Komm schnell herein, und wärme deine Glieder.«
    Ohne weitere Worte folgte die Ratsherrnfrau der Einladung. Kurz darauf saßen beide Frauen am Feuer.
    Mit einem prüfenden Blick durch den einzigen Raum der Hütte fragte Heseke: »Wo ist Johannes?«
    »Zur Jagd«, erwiderte Luburgis gleichgültig. »Doch es würde mich stark wundern, wenn er dieses Mal etwas fangen würde. Ich sage dir: Ohne deine Vorräte wären wir in den letzten sechs Jahren unzählige Male elendig verhungert. Ich liebe meinen Jungen, doch er ist weder zum Feuermachen noch zum Jagen zu gebrauchen. Manchmal kommt es mir vor, als wäre ich der Mann von uns beiden.«
    Heseke kannte diese Reden auswendig. Luburgis beklagte sich jedes Mal über ihren weibischen Stiefsohn – und sie hatte recht. Johannes war seit seiner Geburt klein und schmächtig gewesen. Wider Erwarten hatte sich das auch später nicht geändert. Selbst die Jahre im Wald hatten ihn nicht abhärten können. Er war seiner Stiefmutter keine rechte Hilfe.
    Schon einige Male hatte sich Luburgis dabei ertappt, wie sie sich wünschte, es wäre sein starker Zwillingsbruder Godeke gewesen, der damals bei ihr geblieben wäre. Nachdem man ihren Mann Conrad wegen Mordes zum Tode durch das Rad verurteilt hatte, war sie selbst aus der Stadt gejagt worden. Ihren Stiefsöhnen Godeke
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