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Tochter des Glueck

Tochter des Glueck

Titel: Tochter des Glueck
Autoren: Lisa See
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gekappt, nur weil die Kommunisten die Macht übernommen haben.« Er hört sich an wie der Mann vom Familienverband in Hongkong, und das lässt mich wieder Hoffnung schöpfen. »Immer noch müssen Waren über die Grenze. Jeden Tag fahren Leute aus unserer Kommune in die Neuen Territorien Hongkongs, um unsere Produkte zu verkaufen und andere Lebensmittel zurückzubringen.«
    »Eure Produkte?«, fragt Joy zweifelnd, denn die Volkskommune Löwenzahn Nummer acht produzierte nichts zum Verkauf.
    »Wir verarbeiten und stellen Zutaten für chinesische Kräutermedizin her«, antwortet mein Vater.
    »Chinesische Kräutermedizin?«, wiederholt Joy misstrauisch.
    »Hat deine Mutter dir keine traditionelle Medizin gegeben, als du klein warst?«, fragt Baba. Dann richtet er sich an mich. »Deine Mutter wäre enttäuscht zu hören, dass du deine Tochter nicht richtig aufgezogen hast.«
    Ich werde rot vor Wut. Dieser Mann hat uns verlassen. Seine Spielsucht führte dazu, dass May und ich arrangierte Ehen eingehen und zusammen mit unserer Mutter aus Shanghai fliehen mussten, dass meine Mutter starb und ich vergewaltigt wurde, dass May und ich unser Heimatland verlassen mussten …
    »Natürlich hat mir Mama Kräuter und Stärkungsmittel gegeben«, fällt Joy ein, um mich zu verteidigen und ihn vor meiner Wut zu schützen. »Aber ich fand das alles scheußlich.«
    »Wie, glaubst du, sind die Zutaten dafür wohl nach Haolaiwu gekommen?«, fragt Baba.
    Er hat recht. Selbst nachdem die Grenzen Chinas geschlossen wurden, kauften die Menschen in Chinatown noch Ginseng, gemahlenes Hirschgeweih oder andere scheußlich schmeckende Mittelchen, um Husten, Magenverstimmungen oder Probleme im Ehebett zu kurieren.
    »Wir bauen Heilpflanzen an und stellen traditionelle Arzneimittel her«, fährt er fort. »Unsere Produkte verkaufen wir auf dem Großmarkt in Hongkong. Wir verkaufen dort auch Schweine, Hühner, Enten … Unsere Kommune besitzt mehrere Lastwagen, und wir überqueren die Grenze an der Lo-Wu-Brücke fast täglich. Peking will und braucht den Devisenhandel mit Hongkong. Wir gehören zu den Leuten, die das möglich machen.«
    »Was sagst du da? Wir können einfach nach Hongkong fahren?«, fragt Z. G., der sich noch skeptischer anhört als Joy.
    »Mehr oder weniger«, antwortet Baba. »Die Grenze liegt etwa achtzig westliche Meilen von hier entfernt. Ich denke, wir können euch über die Grenze und in die Neuen Territorien bringen. Von dort aus solltet ihr die letzten zwanzig Meilen ins Stadtgebiet von Hongkong mit dem Bus zurücklegen können.«
    »Wieso hast du das nicht gleich gesagt?«, fragt Joy entrüstet.
    Mein Vater wirft mir einen Blick zu. Hast du meiner Enkelin keine Manieren beigebracht?
    Aber Z. G. stimmt Joy zu. »Sie hat recht. Warum hast du uns das nicht gesagt? Ich meine, wenn das so einfach ist, warum hast du denn China nicht verlassen?«
    Baba sieht mich an, während er Z. G.s letzte Frage beantwortet. »Ich bin fortgegangen und habe meine Familie einem ungewissen Schicksal überlassen. Ich war ein Taugenichts.« (Dem widerspreche ich nicht.) »Ich lebe hier, weil das die Heimat meiner Vorfahren ist. Die abgefallenen Blätter kehren zu ihren Wurzeln zurück. Ich habe ein Haus. Ich bekomme keine Schwierigkeiten. Ich verrichte meine Arbeit …«
    »Baba, die Polizei ist hinter uns her«, unterbreche ich ihn. »Sie werden kommen – wenn nicht heute Nacht, dann am Morgen.«
    »Dann sollten wir euch verstecken«, sagt er, »denn es ist zu spät, um heute noch aufzubrechen.«
    Er packt etwas zu essen ein, gibt uns einige Steppdecken und führt uns weit hinaus auf ein Feld. »Hier könnt ihr heute Nacht schlafen. Haltet das Baby so lange wie möglich wach. Bei der Grenzüberquerung muss die Kleine schlafen. Ich hole euch morgen früh ab.«
    »Kannst du nicht bleiben, Baba? Möchtest du dich nicht noch unterhalten?«
    »Geschichten und Erinnerungen haben die Eigenschaft, möglicherweise unvollständig zu sein«, antwortet er. »Außerdem ist es sicherer, wenn ihr hier draußen seid. Wenn die Polizei kommt, machen wir Lärm, um euch zu warnen. Falls es dazu kommt, geht weiter Richtung Süden und hofft auf das Beste. In der Zwischenzeit werde ich mit den anderen Familienmitgliedern alles vorbereiten.«
    Mit diesen Worten macht er sich auf den Rückweg ins Dorf. Wir breiten die Steppdecken aus. Es ist kalt, aber auszuhalten. Joy geht mit der Kleinen auf und ab und schaukelt sie, um sie wach zu halten. Ich lege die Arme um Ta-ming.
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