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Tochter des Glueck

Tochter des Glueck

Titel: Tochter des Glueck
Autoren: Lisa See
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vielen verlorenen Jahren.
    »Wo ist May?«, fragt Baba.
    Seine Frage tut mir weh. May war immer sein Liebling.
    »May und ich haben es nach Los Angeles geschafft …«
    » Haolaiwu «, sagt er und nickt. So hatte er das für uns geplant. Dann scheint er langsam zu begreifen. »Aber warum seid ihr hier?«
    »Das ist eine lange Geschichte, und wir haben nicht viel Zeit. Wichtig ist nur, dass May in Hongkong auf uns wartet und wir eine Möglichkeit brauchen, zu ihr zu kommen. Kannst du uns helfen?«
    »Vielleicht«, sagt er. »Kommt mit.«
    Wir folgen ihm durch eine Gasse. Die Schaulustigen begleiten uns. Das sollte mich eigentlich beunruhigen. Ich möchte nicht, dass diese Leute alles erzählen, wenn die Polizei kommt. Andererseits ist dies das Dorf meiner Ahnen. Würden sie wirklich eine der Ihren verraten?
    Wir betreten das Haus meines Vaters. Ein paar der Dorfbewohner kommen mit hinein. Nach und nach tauchen immer mehr auf, um ihre Verwandten anzuglotzen und ihnen zuzuhören. Mir war die Armut auf dem Land immer zuwider, doch hier entdecke ich nichts davon. Das Haus ist klein, hat aber richtige Fenster. Die Möbel sind hübsch. In den Schränken stehen Gläser, Dosen und Tüten mit Nahrungsmitteln. Ich war nicht mehr in diesem Dorf, seit ich drei war, merke jedoch, wie Bruchstücke von Erinnerungen hochkommen. Ich erinnere mich an den Korb, der an der Decke hing. Auf dieser Stufe bin ich hingefallen und habe mir das Knie aufgeschürft. Ich saß gerne auf der Fußbank neben dem geschnitzten Stuhl, auf die meine Großmutter die Füße legte.
    Jemand schenkt Tee ein. Joy mischt ein Fläschchen Babymilch für Sam. Mein Vater schenkt Ta-ming eine Orange. Eine Orange! Ein unglaublicher Anblick nach all den entbehrungsreichen Monaten. Mein Vater geht in die Hocke und fängt an zu reden. Er mag ja nun in einem Dorf leben, doch einst war er ein Shanghaier Geschäftsmann.
    »Angeblich überqueren jeden Tag hundert Leute illegal die Grenze«, beginnt er. »Aber wenn man mit einem Wachmann oder Polizisten redet, dann erzählt er einem, dass sie jeden Tag noch mehr Leute erwischen. Und noch mehr sterben bei ihrem Fluchtversuch.« Er hält inne, um seine Worte auf uns wirken zu lassen. »Wie viel Geld habt ihr?«
    Mir kommen Zweifel an den Motiven meines Vaters. Kann man ihm vertrauen?
    »Wenn ihr Geld habt«, fährt er fort, »könntet ihr mit dem Zug fahren und die Wachmänner bestechen.«
    »Das habe ich schon versucht«, sagt Joy. »Es hat nicht funktioniert.«
    »Hier unten läuft das vermutlich anders«, antwortet Baba. »Die Banden organisieren die Flucht im Zug, aber sie lassen sich das bezahlen …«
    »Ach, Ba, erzähl mir bitte nicht, dass du schon wieder mit einer Bande zu tun hast.«
    Er übergeht meine Bemerkung einfach. »Ihr könntet einen Sampan oder ein Fischerboot mieten und über den Perlfluss nach Macao oder Hongkong fahren«, schlägt er vor, »nur wird der Schiffsverkehr ebenfalls von Banden kontrolliert.«
    »Der Perlfluss«, wiederholt Joy. »Das ist bestimmt ein gutes Vorzeichen.«
    Meine Tochter will so dringend von hier weg, dass sie nicht klar denkt.
    »Wir stünden vor den gleichen Schwierigkeiten wie in Shanghai«, erinnere ich sie. »Wisst ihr, zu welchen Zeiten die Kontrollboote fahren?«, frage ich meinen Vater.
    Er ignoriert meine Frage und schlägt etwas anderes vor. »Ihr könntet als blinde Passagiere auf einem Schiff mitfahren, aber weil ihr so viele seid, kommt das wohl kaum infrage. Manche möchten lieber in einem Reifenschlauch oder auf einem Stück Treibholz den Fluss entlangtreiben …«
    »Du scheinst dich gut damit auszukennen«, wirft Z. G. ein. Ein typischer Hase – vorsichtig und reserviert.
    Mein Vater reckt das Kinn unsicher vor. Das hat er schon früher immer gemacht, wenn er mit meiner Mutter nicht über etwas Unangenehmes diskutieren wollte.
    »Aber wie willst du dich mit einem Baby und einem kleinen Jungen auf dem Fluss treiben lassen?«, fährt mein Vater nach einer kurzen Pause fort. »Außerdem ist es um diese Jahreszeit trocken, der Wasserstand ist niedrig. Und ihr könntet trotzdem noch von den Kontrollbooten erwischt werden.«
    Ich lasse die Schultern hängen. Wir sind so weit gekommen. Was passiert, wenn wir erwischt werden?
    »Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, sagt mein Vater. »Unser Dorf gehört zu einer Kommune, die aus zwanzig Dörfern besteht. Unsere Dörfer haben jahrhundertealte Verbindungen mit Hongkong und Macao. Diese Verbindungen wurden nicht
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