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Tijuana Blues

Tijuana Blues

Titel: Tijuana Blues
Autoren: Gabriel Trujillo Muñoz
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Erzählung mit dem gedankenverlorenen alten Mann in Verbindung zu bringen, den er vor sich hatte. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
    Der Alte sah ihn schräg an und nickte wieder.
    »Gefällt Ihnen Mexicali?«
    »Ich lebe hier.«
    »Ja, aber gefällt es Ihnen?«
    »Man lebt, wo man kann.«
    »Wenn Sie an einem anderen Ort leben könnten, würden Sie das tun?«
    »Ich bin zu alt für Umzüge.«
    »Und wenn dem nicht so wäre?«
    »Ich würde hier bleiben.«
    »Weil es Ihnen gefällt? Weil Sie an dem Ort hängen?«
    Wang Wei machte eine abwehrende Bewegung mit der Pfeife. »Sie verstehen das nicht«, sagte er.
    »Nein. Ich verstehe wirklich nicht, warum jemand in einer Stadt wie dieser leben will. Ich habe mich als Jugendlicher aus dem Staub gemacht und es nie bereut.«
    Der Alte zeigte mit der Pfeife auf den Drachen an der Wand. »Man kämpft viele Jahre, um etwas zu erreichen. Was man sich am sehnlichsten wünscht. Und wenn man es erreicht hat, kämpft man um das Nächste. Immer wieder aufs Neue. Dann stirbt man.«
    Morgado wusste nicht, ob damit seine Frage schon beantwortet war, also schwieg er erst einmal. Er dachte über den Chinesen nach, der seelenruhig seine Pfeife rauchte. Ein Mann, der sich nicht hatte kleinkriegen lassen, der mit Klauen und Feuer wie ein Drache verteidigt hatte, was ihm gehörte.
    »Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht«, fuhr der Alte fort. »Und ich werde hier sterben. Das ist mein Schicksal.«
    »Man sagt, die Götter spielen mit uns.«
    Wang Wei schüttelte den Kopf. »Nur, wenn man mit sich spielen lässt. Nur dann.«
    In dem Moment kam Atanasio, und sie verabschiedeten sich von dem Restaurantbesitzer. Als sie herauskamen, waren sie einen Augenblick geblendet von dem gleißenden Sonnenlicht, das von den Autodächern reflektiert wurde.
    »Dieser Chinese ist eine lebende Legende«, bemerkte Atanasio.
    »Ein verdammt sturer Mexicalese«, antwortete Morgado.
     
9
     
    Als Morgado sich bereit erklärt hatte, nach Mexicali zu kommen, hatte er beschlossen, in einem Hotel im Zentrum abzusteigen und nicht bei Atanasio oder einem Verwandten zu wohnen. Eine Frage der Sicherheit, erklärte er. Ein Hotel hatte immer mehr Fluchtwege, und so paradox es klingen mochte, es war so einfacher, unbemerkt zu bleiben. Aber Atanasio nahm ihn erst mal mit zu sich und stellte ihm seine Frau und seine Kinder vor. Als er Morgado später im Hotel absetzte, übergab er ihm eine glänzende Pistole. Eine 45er, wie es sich gehörte.
    »Nimm die. Für alle Fälle. Die Menschenrechte verteidigt man nicht nur mit Reden und Gesetzen.«
    Morgado nahm die Pistole, schwor sich aber, sie nur im äußersten Notfall zu benutzen. In der angespannten Lage war es eine unnötige Provokation, eine Feuerwaffe mit sich zu führen. Aber er konnte sich den Luxus nicht leisten, auf Unvorhergesehenes nicht vorbereitet zu sein. Seinen eigenen Tod eingeschlossen.
    Und als er gegen eins schlaflos im Dunkeln lag, dachte er daran, dass er ganz auf sich allein gestellt war. Dass er, weil er rastlos war und das Nomadenleben liebte, keine festen Bezugspunkte hatte, die ihm eine Mitte, ein Gleichgewicht gaben. Es war totenstill. Man hörte nicht einmal den Verkehrslärm von draußen. Morgado grübelte über sein Schicksal nach, über Taten und Pläne, verfolgte Ziele und Schimären. Ich werde allein in einem Altersheim sterben, mir in die Hosen machen, ohne jemanden, der sich um mich kümmert. Wie mein Vater. Das ist lächerlich. Zu viel Selbstmitleid. Zu viel Melodrama. Was Alicia jetzt wohl macht? Ob sie verstanden hat, was ich ihr sagen wollte? Was ich ihr im Grunde gesagt habe?
    Das Geräusch von näher kommenden Schritten auf dem Flur lenkte ihn von seinen Überlegungen ab. Die Schritte hielten vor seiner Tür inne. Ein Dietrich wurde in das Türschloss geschoben.
    Morgado nahm die 45er aus dem Karton in der Kommode und entsicherte sie. Die Tür ging langsam ohne jedes Geräusch auf. Ein Schatten kam in das Zimmer. Morgado machte die Deckenbeleuchtung an, zielte mit der Pistole, schoss aber nicht. Der Schatten entpuppte sich als ein brünettes junges Mädchen. Nicht älter als achtzehn, gut gebaut. Sie sah ihn an, ohne eine Miene zu verziehen. Völlig unbeeindruckt.
    »Wer bist du?«, fragte er und erhob sich. Er hatte nur die Unterhose an und versuchte einen Bademantel überzuziehen.
    Das junge Mädchen war anscheinend nicht bewaffnet. »Ich bin die Tochter von Heriberto González.«
    »Zeig mir deinen Ausweis.«
    Das Mädchen
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