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Tijuana Blues

Tijuana Blues

Titel: Tijuana Blues
Autoren: Gabriel Trujillo Muñoz
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Verschwundenen.«
    »Und was ist der Grund Ihres heutigen Besuchs?«
    »Genau das. Ich werde in die Hauptstadt zurückkehren, in mein Apartment in der Colonia del Valle, und ich werde als Landschaftsbild Regen, Nebel und Smog vor mir haben. Ich brauche das Licht meiner Wüste. Licht und Trugbilder und Landschaften, die zu mir gehören und die mir die Wärme des Guten vermitteln.«
    »Und wie wollen Sie das lösen?«, fragte Juanita.
    Der Maler hatte schon verstanden. »Welches Bild möchten Sie?«
    »Das wärmste, das hellste.«
     
23
     
    Er klingelte erst an der Tür, als er sich vergewissert hatte, dass die Adresse korrekt war. Aber selbst da wusste er nicht, was ihn erwartete, wenn die Tür aufging und er Erklärungen abgeben musste. Und wenn sie ihn abwiesen? Ihn für verrückt hielten? Und wenn das doch nicht das Haus war?
    »Was wünschen Sie, Señor?«
    Es war ein Mädchen mit großen Augen und einer Puppe im Arm. Hinter ihr hörte er eine besorgte Frauenstimme: »Mach nicht auf, Nina, es kann ein Dieb sein!«
    Eine junge Frau erschien im Türrahmen und schob das Kind mit einer Verteidigungsgeste in das Haus zurück. »Was wollen Sie?«
    Morgado reichte ihr seine Visitenkarte.
    Die Frau las sie misstrauisch. »Migranten? Was haben wir damit zu tun?«
    Der Anwalt war immer noch unsicher. Er wollte sich schon auf dem Absatz umdrehen, als ein anderes Gesicht in der Tür auftauchte. »Wer sind Sie?«
    Es war ein alter Mann, der ihn von Kopf bis Fuß musterte. Fast beschnüffelte er ihn, als könne er über den Geruch alles über ihn in Erfahrung bringen.
    »Ich bin Miguel Ángel Morgado. Ich würde gerne wissen, ob hier die Familie Islas Tinoco wohnt.«
    »Ich bin Servando Islas Tinoco, und das ist Angélica, meine Tochter, und Nina, meine Enkelin. Was wollen Sie von uns?«
    Morgado seufzte bei dem Gedanken an den langen Weg, den er vor sich hatte, um einem Mann gerecht zu werden, der fast fünfzig Jahre spurlos vom Erdboden verschwunden war.
    Aber es gab keine Alternative. Langsam holte er die Bleiurne aus seinem Koffer.
    Ein Toter kehrt bald nach Hause zurück, dachte er.
    Und dann begann er mit der langen, verwirrenden Runde von Erklärungen.

24
     
    Es war nachts. Sehr spät in der Nacht. Morgado stellte die Koffer hinter der Tür ab und legte sich ins Bett. Diesmal wollte er irgendein Fernsehprogramm sehen, das ihn die vergangenen Stunden mit der Familie Islas Tinoco vergessen ließ. Anfangs hatten sie sich geweigert, zu akzeptieren, was die Urne repräsentierte. Es war wie ein Gespenst, für das sie bereits einen Ort fern von ihren Herzen gefunden hatten und das jetzt zurückkehrte und sie mit seiner plötzlichen Anwesenheit, mit unangenehmen Erinnerungen verwirrte. Klage und Schmerz. Zittern und Umarmungen. Die Toten, selbst noch die verborgensten, können die Welt erschüttern, indem sie wieder auftauchen und sagen: »Da bin ich.«
    Der alte Mann, der älteste Sohn des Verschwundenen, litt am meisten unter dem, was Morgado ihm mitzuteilen hatte, obwohl jener ihm nicht die ganze Geschichte erzählte, nur die Kernstücke. Es war genug, dass der alte Mann den Schmerz spürte, den die Vergangenheit verursachte, und dass er akzeptieren musste, dass die mit einem Schlag abgebrochene Beziehung, als er gerade einmal neun Jahre alt war, eine unerledigte Geschichte, eine nicht verheilte Wunde war.
    »Vielen Dank für alles«, hatte der alte Mann zu ihm gesagt.
    Jetzt war Morgado frei. Aber wie viele andere blieben immer noch verschwunden? Wie viele Körper lagen in der Laguna Salada? Hunderte? Tausende? Zehn, zwanzig, dreißig?
    Das Telefon läutete. Es war Jimmy. »Miguel Ángel, hast du mal in den Kulturkanal geschaut?«
    »Nein. Warum?«
    »Kanal 22. Guck rein, dann reden wir.«
    Jimmy hatte aufgelegt. Morgado stellte Kanal 22 ein. Es war ein Bericht irgendwo aus der russischen Tundra. Der entsandte Reporter war halb tot vor Kälte, blieb aber am Mikrofon. Er stand auf einem Friedhof oder dergleichen. »Vor knapp einer Woche hat die russische Regierung für die Öffentlichkeit die Tore dieser geheimen, den Helden der Sowjetunion gewidmeten Gedenkstätte geöffnet. Und mit Helden sind hier die anonymen Kämpfer gemeint, die in allen Winkeln der Welt von 1917 bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion kämpften.«
    Die Kamera zeigte eine große Fläche voller Sträucher, aus denen wie Grabstelen Steine aus schwarzem Marmor mit goldenen Inschriften herausschauten.
    »Jeder Stein«, fuhr der Journalist fort, »steht
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