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Tief atmen, Frau Doktor!

Tief atmen, Frau Doktor!

Titel: Tief atmen, Frau Doktor!
Autoren: Richard Gordon
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Untersuchungszimmer. Er schloß sie schnell, in der Angst, daß sich ein Blutstrom über den Fußboden der Praxis ergießen und ihn zwingen könnte, auf höchst unfeine Art in Ohnmacht zu fallen. Er stand mit gefalteten Händen im geräumigen Vorhof und überlegte, daß Gott in seiner unermeßlichen Weisheit wohl guten Grund haben müsse, ihm einen so erbärmlichen Vormittag zu bescheren - aber es war ein Grund, der sein eigenes Fassungsvermögen überstieg.
     

2
     
    Als die alte Stiftspraxis um acht Uhr an diesem Morgen mit der Ordination begonnen hatte, saß Mr. Bellwether auf einem kleinen blauen Plastiksessel im Korridor des Bischof spalais und sann über die Veränderungen in der Kirche von England seit den Tagen des viktorianischen Romanschriftstellers Anthony Trollope nach.
    Anthony Trollopes Erzdiakon Grantly aus Plumstead in Barsetshire war unverschämt reich. Der Besitz der Grantlys in Die letzte Chronik von Barset erstreckte sich bis in die angrenzenden Pfarren von Eiderdown und Stopingum hinein, und sein Sohn, der Major, konnte einen Schuß über 15.000 Morgen Landes abgeben. Mr. Bellwether aber war beschämend arm .
    Erzdiakon Grantly war in der Kathedralenstadt Barchester ein einflußreiches Ärgernis. Mr. Bellwether dagegen haßte auch nur das geringste Aufhebens in Mitrebury.
    Trollopes Erzdiakon hegte eine merkwürdige Abscheu vor runden Eßtischen, erinnerte sich Bellwether, und empfand sie lediglich für Protestanten und Leute aus der Unterschicht als passend. Mr. Bellwether und seine Frau aßen oft am Küchentisch zu Abend - jetzt, da er sich ein kleines modernes Haus im weniger noblen, London zugewandten Teil der Stadt gekauft hatte, nachdem sein offizieller Wohnsitz im Kathedralenbezirk zu baufällig geworden war.
    Das Palais füllte die Westseite des Kirchhofs aus, ein Monument, das an bischöfliche Würde gemahnte und aus ungeheuer großen Milchfondantblöcken errichtet schien. Das oberste Stockwerk beherbergte jetzt den Bischof, das übrige Gebäude ein Dutzend Körperschaften, die sich um das geistige, moralische oder soziale Wohl ihrer Mitmenschen zu schaffen machten.
    Die riesige Vorhalle, durch die achtzig Bischöfe zwischen der irdischen und der geistlichen Welt hin- und hergewandelt waren, war jetzt ein Wartesaal für die Abteilungen, die der letzte von ihnen in das alte Gebäude hineingepfercht hatte. Die wurmstichige Wandvertäfelung war durch abwaschbares, grellrosa Plastik ersetzt worden. Der aufgeworfene Eichenfußboden war durch einen strapazierfähigen beigen Teppichboden ersetzt worden. Die Halle war bereits voll.
    Junge Frauen mit heiseren, raufenden Kindern warteten auf die Hilfsorganisation für Alleinstehende Mütter, die ihnen diese - fromm und gottesfürchtig, wie sie war -einige wundervolle Stunden lang abnehmen würde. Ein alter Mann, der an einer kalten Pfeife zog, wartete auf eine Gruppe des Seniorenklubs für Kunstfreunde, der Gratisbusreisen mit Mittagessen anbot. Durch einen Gummibaum vom Erzdiakon getrennt warteten zwei Jugendliche, die in aller Morgenfrühe aus dem Gefängnis von Mitrebury entlassen worden waren. Mitreburys Bischofspalais war dafür berühmt, daß es Gestrauchelten die Wiedereingliederung in die Gesellschaft durch finanzielle Zuschüsse erleichterte.
    Erzdiakon Grantly wäre nie in einem Wartesaal gesessen, sann Mr. Bellwether. Und Mrs. Proudie hätte im Palais ihres Gatten in Barchester auch niemals diese gräßlichen, stapelbaren Plastiksessel geduldet.
    Fünf Stockwerke darüber saß der Bischof am schmucklosen Schreibtisch seines kahlen, nüchternen Arbeitszimmers, energiegeladen wie immer.
    »Guten Morgen, Eminenz.« Sein Hauskaplan war eingetreten, diskret wie ein Schatten im Winter.
    »Nennen Sie mich doch Peter«, forderte ihn der Bischof auf.
    »Ich bitte um Vergebung. Alte Gewohnheiten legt man nur schwer ab. Der alte Bischof sah so streng auf die Etikette.«
    »Der letzte Bischof, Gott hab ihn selig, wurde fast vierzig Jahre vor mir geboren. In ein soziales Sonnensystem hinein, das Lichtjahre von dem unseren entfernt ist. Wir dürfen gute Manieren nicht mit Gespreiztheit verwechseln, Arthur.«
    »Natürlich nicht, Peter.« Der Kaplan ging quer über das Schachbrettmuster des mit Plastikfliesen ausgelegten Fußbodens. Er war klein, dick und blaß, mit scharfem Profil und runder Brille. Sein dichtes schwarzes Haar glänzte wie seine derben schwarzen Schuhe, sein abgetragener Anzug aus schwerem Stoff war untadelig gebügelt, sein
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