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Thomas Mann - Ein Portraet fuer seine Leser

Thomas Mann - Ein Portraet fuer seine Leser

Titel: Thomas Mann - Ein Portraet fuer seine Leser
Autoren: Hermann Kurzke
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Menschheitsfortschritt geträumt und dem Glauben gehuldigt, der Intellekt verbürge ihn. Mit
Buddenbrooks
kam ein Roman, der das optimistische Modell geradezu auf den Kopf stellte, indem er dem Intellekt eine führende Rolle im Verfallsprozeß zuwies. Naivität ist jetzt, biologisch gesehen, Stärke, die wachsende Reflexivität aber hat als Endergebnis den Tod. Wer vom Tode weiß, ist dem Leben nicht mehr gewachsen. Erkenntnis, Religion, Musik und auch die tiefe Liebe sind letzten Endes todessüchtig, jedenfalls immer geschäftsschädigend.
    Die erste und die letzte Szene des Romans gehören Tony Buddenbrook, die nicht versteht, was geschieht. In der Tradition der Familie hatte sie ihre tiefste Liebe dem Geschäft opfern wollen, aber ihr Opfer wurde nicht angenommen. Kraft ihrer gesunden Naivität überlebt sie alle und alles, ihren Bruder Thomas und den Zusammenbruch der Firma, und darf am Ende die Hoffnung auf ein Wiedersehen im Jenseits aussprechen. Zwar ist diese Hoffnung als Aussage einer naiven Figur ironisch gebrochen, aber das Thema ist trotzdem unübersehbar da.
Buddenbrooks
hat, bei aller naturalistischen Präzision der Familien- und Sozialgeschichte, auch eine vertikale, eine religiöse Dimension, als Roman, der eine pessimistische Metaphysik in Szene setzt, die auf Nietzsche, Wagner und Schopenhauer aufruht. Die erstaunliche Kunst besteht darin, daß Realismus und Metaphysik einander nicht widersprechen. Horizontale und vertikale Stimmigkeit finden überraschend zur Einheit. Eine vieltönig orchestrierte, vielfältig anwendbare Symbolik entsteht.
16
Notizen
    Thomas Mann warf so leicht nichts weg. So hob er durch alle Wechselfälle seines langen Lebens hindurch vierzehn Notizbücher auf, von denen die ältesten bis in die
Buddenbrooks
-Zeit zurückreichen, während die jüngeren in den Ersten Weltkrieg und die jüngsten bis in die dreißiger Jahre datieren. Das ist ein Glücksfall, denn die Notizbücher sind eine einzigartige Quelle. Sie halten werkdienliche Einfälle und Fundstücke fest und dokumentieren so den status nascendi, die ursprünglichste Zone des dichterischen und gelegentlich auch des essayistischen Werks. Sie erlauben uns manchmal, den autobiographischen Kern eines Werkes zu finden, auch wenn dieser im Notizbuch bereits seine allererste Literarisierung erfährt.
    Einfälle haben kann jeder, sie fliegen ständig heran und vorbei, aber die Kunst, sie zu haschen und festzuhalten, beherrschen die meisten nicht. Man muß dazu das Notizbuch nicht nur bei sich haben, sondern es auch sofort benützen, das Vögelchen einfangen und den Einfall aus seiner oft noch halb vorsprachlichen Rohform heraus in eine aufschreibbare Gestalt bringen. Das Notizbuch ist kein Tagebuch, das meistens erst am Abend geschrieben wird, sondern es ist unmittelbar am Geschehen, folgt ihm im Minuten- oder gar Sekundenabstand. Aber es ist auch in dem Sinne kein Tagebuch, daß Thomas Mann dort nicht sein Leben festhalten will, sondern Samenkörner sammelt für sein Werk.
    Die meisten Notizen hat Thomas Mann irgendwo verwendet, manche erst Jahrzehnte später. Ein paarungeschriebene Novellen oder Essays wären wohl noch vorrätig gewesen. Aber in den letzten Lebensjahrzehnten hat Thomas Mann keine Notizbücher mehr geführt. Er kam jetzt ohne sie aus. Das Erlebte spielte in seinem Werk eine immer geringere Rolle. An die Stelle der Notizbücher und sie immer mehr verdrängend schieben sich große Notizen- und Materialienkonvolute, die gezielt für ein bestimmtes Werk angelegt werden. Je mehr das eigene Leben als Quelle erschöpft ist, desto wichtiger werden andere Quellen. Der autobiographische Kern wird im Spätwerk, etwa im
Zauberberg
oder im
Joseph
, immer kleiner, die Materialmengen, die er zu organisieren vermag, werden immer größer. Die Notizenmassen sind deshalb zwar aufschlußreich, wenn man sich für Thomas Manns Arbeitstechnik interessiert, aber sie geben wenig her, wenn man auf der Suche nach dem Menschen ist, der dieses Werk geschrieben hat.
17
Inspiration
    Gott blies dem Erdenkloß Adam den Lebensatem ein, beseelte ihn (Gen 2,7). Inspiration, von lateinisch spiritus (Geist, Atem), heißt Beatmung, Belebung, Beseelung. Der Ursprung des Wortes ist religiös. Die Inspiration ist etwas Geheimnisvolles. Sie kommt aus einer unerreichbar jenseitigen Zone, ist irrational, überraschend, unerzwingbar, unberechenbar.
    Natürlich kann man ihr Gelegenheiten schaffen. Beim einen fördern Alkohol, Zigaretten und
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