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Thomas Mann - Ein Portraet fuer seine Leser

Thomas Mann - Ein Portraet fuer seine Leser

Titel: Thomas Mann - Ein Portraet fuer seine Leser
Autoren: Hermann Kurzke
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bricht nichts zusammen, bis zum letzten Satz nicht, der unterkühlten Mitteilung, daß eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von Aschenbachs Tode empfangen habe. Insofern kann man diese Erzählung literarhistorisch zur sogenannten Neuklassik zählen, einer kurzlebigen Bewegung, die sich vor dem Ersten Weltkrieg dem Aufbruch der Moderne entgegenstemmte. Zu ihr gehörte nicht nur ein austarierter, Einseitigkeiten und Extreme vermeidender Stil und ein Beharren auf strengen Formen, sondern auch ein Rückbezug auf die Antike. Diese Aufgabe war für Thomas Mann neu. Den Zugang zu ihr fand er über die Brücke der «griechischen Liebe», die ihm eine anerkannte Tarnsprache bot. Im Gewande der antiken Bildung war die Knabenliebe nichts Niedriges, sondern von kulturellem Wert. Von Sokrates und Phaidros mußte sprechen, wer von der Knabenliebe sprechen wollte, ohne sich zu verraten. Das funktionierte gut. Das von heute aus gesehen offensichtlich Autobiographische des Stoffs teilte sich seinerzeit nur wenigen Eingeweihten mit, und die waren aus eigenem Interesse diskret. Ganz vereinzelt haben auch kluge Psychiater davon gesprochen: Der Autor verrate dem Psychoanalytiker «unzweifelhafteinen starken gleichgeschlechtlichen Anteil seiner Sexualität. Es ist hier schön zu sehen, wie dem Dichter sein Werk unbewußt dazu dient, unterdrückte Regungen, wenigstens in der Phantasie, zu befriedigen.»[ 3 ] Eine öffentliche Diskussion, wie sie heute unweigerlich die Folge wäre, entstand daraus jedoch nicht.
    Die Antikestudien bringen Thomas Mann außerdem noch etwas Neues ein: den Mythos. Als er den
Tod in Venedig
schreibt, lernt er erstmals, eine mythische Tiefenstruktur zu bilden, die das Be zie hungssystem seiner musikalischen Meeresmetaphysik mit neuen Dimensionen ausstattet. Um die Welt des Todes auszugestalten, steht ihm nun der reiche Schatz der antiken Hades-Mytho lo gie zur Verfügung. Der Gondoliere, der Aschenbach auf den Lido fährt, steuert Charons Nachen über den Fluß der Unterwelt. Hadesführer sind auch der Fremde am Münchener Nordfriedhof, dessen Anblick Aschenbachs Reiselust weckt, der Straßensänger, sogar der Liftführer; und die verjüngende Kraft der Liebe, die in Wahrheit zum Tode führt, versprechen der greise Geck auf dem Schiff und der Friseur, der Aschenbach jugendlich aufschminkt. Der schönste und lockendste Totenführer ist freilich Tadzio selbst, eine Verkörperung des Hermes Psychagogos, des schönen Gottes, der die Seelen über die Schwelle des Todes geleitet. Es ist ein Liebestod. «Ihm war aber», so wird Aschenbachs letzter bewußter Augenblick erzählt, «als ob der bleiche und liebliche Psychagog dort draußen ihm lächle, ihm winke; als ob er, die Hand aus der Hüfte lösend, hinausdeute, voranschwebe ins Verheißungsvoll-Ungeheure.Und, wie so oft, machte er sich auf, ihm zu folgen.»[ 4 ]
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Apollinisch und dionysisch
    Was Thomas Mann vom alten Griechenland wußte, wußte er vorwiegend von Nietzsche. Es ist deshalb nicht die lichte Antike Winckelmanns, nicht die edle Einfalt und die stille Größe, nicht Reinheit und gebändigte Formstrenge, was er sieht, sondern die bipolare Antike Nietzsches, in der das Maßvolle von einem dunklen und lockenden Bereich des Maßlosen bedingt ist. Am Ende des ersten Kapitels seines Buchs
Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik
hat Nietzsche für den Gegensatz, der sein Antikebild bestimmt, die Begriffe des Apollinischen und des Dionysischen in die Diskussion eingeführt. Apollo ist der Gott der Ordnung, des Maßes und der Begrenzung, Dionysos aber der Gott des Rausches, der Maßlosigkeit und der Entgrenzung. Apollinisch ist das Vertrauen auf Raum, Zeit und Kausalität, auf das Individuum und seinen Verstand, dionysisch ist das Versinken in Augenblick und Ewigkeit, die Vermischung, der heilige Wahnsinn, die selbstvergessene Verzükkung, der Untergang des Individuums im Geschlecht. Apollinisch ist die Nüchternheit, ist Gehen und Sprechen, Erkennen und Handeln, Entwicklung des Ichs, Verbesserung der Welt, dionysisch ist der Rausch, ist Tanzen und Singen, ist Schwärmen und glühende Gemeinschaft und Begeisterung bis in den Tod.
    Natürlich will jeder gern vernünftig sein, aber das Vernünftige ist in dieser Welt oft das Langweilige, dastiefere Sehnsüchte nicht stillen kann. Das Dionysische ist deshalb verlockend, obgleich es gefährlich ist. Das Rauschhafte ist nicht nur das Auflösende, Ungebändigte und Schwärmerisch-Ver eini gende,
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