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Theres

Theres

Titel: Theres
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Schwellungen, die sich an bestimmten Körperstellen befanden, u. a. an den Beinen der Verstorbenen, sind so gut wie ausnahmslos bei Selbstmordopfern dieser Art zu finden, bei denen der Tod vermutlich nicht unmittelbar eingetreten ist.
    (Aus einer Hausmitteilung an den Chef des BKA Horst Herold, mit Kopien an den Innenminister Werner Maihofer und Justizminister Hans-Jochen Vogel.)

»Im Paradiese«

    Draußen ist es noch dunkel; doch in Herolds Zelle herrscht künstliche Schreibtischdämmerung. In dem bleichen Schreibtischlicht ordnet Herold die letzten, übriggebliebenen Gegenstände in seinen Schubfächern. Unter all den ungewöhnlichen Dingen, die er im Laufe der Jahre mit Etiketten versehen und verzeichnet hat (Muscheln, Vogelfedern, verblasste Fotografien seit langem toter Vorväter der Familie Meinhof ) fällt sein Blick auf eine ziemlich unansehnliche Radierung. Das betreffende Blatt trägt den Titel » Im Paradiese« ( 1820 von einem gewissen Carl Ludwig Hess ausgeführt) und stellt eine hügelige Landschaft dar, durch die ein Fluss oder Kanal verläuft (die gleichmäßig geschnittenen Uferböschungen machen einen künstlichen Eindruck). Auf der Allee, die den Fluss oder Kanal auf der einen Seite säumt, wandern insgesamt fünf Menschen entlang. Zwei von ihnen bewegen sich von dem Ort fort, drei sind auf dem Weg dahin. Das Seltsame an dem Bild ist, dass die flanierenden Gestalten, obgleich sie von der Perspektive logischerweise in den Vordergrund gerückt werden müssten, auf dem Bild kaum zu sehen sind: Es ist, als hätte die Landschaft sie fast zur Unansehnlichkeit schrumpfen lassen. Was hingegen äußerst deutlich hervortritt, sind die turmähnlichen Gebäude, die sich auf den Kuppen der fernen Hügel abzeichnen.
    Herold legt das Bild weg, irritiert über diesen flagranten Verstoß gegen alle vernünftigen physikalischen und optischen Gesetze; spielt mit dem verbotenen Gedanken, alle Bilder aus dem Dossier zu extrahieren. Wagt es jedoch nicht; begnügt sich mit einem »feigen« Kompromiss: stopft das Bild in die Innentasche seines Jacketts. Ruft dann in Richtung der Leibwächter, die gleich Schatten vor der Tür warten: Es ist spät, fahrt mich nach Hause!
    *
    »Echte« Dämmerung nun. Ein schmales Lichtband betont den Himmel, vor dem der Geleitzug fährt. Herold, der darauf wartet, die offizielle Bestätigung von Meinhofs Tod zu hören, bittet den Fahrer, das Autoradio einzuschalten. Noch ist der Sendeplatz indes von nächtlichen Wiederholungen belegt:
    Unsere Serie FANTASTISCHE FAKTEN hat jetzt die Stadt JENA erreicht, aus der wir über eine erstaunliche architektonische Leistung berichten wollen:
    Näher besehen handelt es sich um eins von Jenas sogenannten Wunderwerken, bekannt vor allem unter dem lateinischen Namen Weigeliana domus. Das Haus wurde 1670 von dem berühmten Wissenschaftler ERHARD WEIGEL errichtet und war, bis zu seinem Abriss im Jahr 1898, mit seinen sieben Stockwerken eines der spektakulärsten Bauwerke der Stadt Jena. Weigel hatte selbst erklärt, er habe das Haus zu dem Zweck erbaut, einige kontroverse wissenschaftliche Theorien seiner Zeit unter Beweis zu stellen. Infolgedessen war es hier möglich, durch eine Öffnung im Dach auch bei Tage die lichtstärksten Sterne zu erblicken, und zwar indem die Wände des Schachtes dunkel verhängt waren. Besucher konnten auch berichten, dass sie in kleinen, speziell zu diesem Zweck gefertigten Körben, die in einer sinnreichen, nach dem Flaschenzugprinzip fungierenden Vorrichtung hingen, zwischen den Stockwerken hin und herbewegt wurden: eine Art vormoderner Aufzüge. Die spektakulärste Einrichtung jedoch war die sogenannte WEIGELSCHE KELLERMAGD . Goss man ein Maß Wasser durch eine Wandöffnung am einen Ende von Weigels Atelier, kam am anderen Ende des Raumes aus einer Wandöffnung die entsprechende Menge Wein heraus. Eine Leistung, die unseres Wissens, bis dato nur Christus ungestraft vollbracht hatte. Die Kellermagd wurde jedoch rasch aus dem Gebrauch genommen, unter dem Vorwand, ein Missbrauch könnte dem Weingewerbe ernsthaft Schaden zufügen …
    Was folgt als Nächstes? , fragt Herold seinen Fahrer. Werden wir Gefängnisse bekommen, die ihre Insassen in Engel verwandeln? Der Fahrer aber gibt keine Antwort. Sein Beruf ist es, »Fahrer« zu sein,nicht sich mit metaphysischen Fragen herumzuschlagen. Die Radiostimme fährt jedoch unverdrossen fort:
    Versuche die Wirklichkeit zu erfassen, soll Weigel gesagt haben, und du wirst feststellen,
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