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Theres

Theres

Titel: Theres
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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bedrohlich. Gibt es einen »Wasserdruck«,braucht er nicht unbedingt schlimmer als anderer Druck zu sein. Eine akustische Extrawand, die nicht nur betäubt, sondern auch gegen Angriffe von außen schützt.
    Sie steht auf, reißt die Matratze vom Bett und trägt sie zum Fenster. Zusätzliche Verstärkung der inneren Schutzmauern oder nur eine »Schwimmmatratze« zum Drauflegen, falls das Wasser beschließt zu steigen? (Muss festhalten an dieser kindlichen Betrachtung der Dinge: Sonst droht ihr auch die Gedankenflut über den Kopf zu steigen.) Stabilisiert die Matratze durch einen daraufgestellten Stuhl.
    Geht dann in die vom Wasserdruck erhitzte Toilettenkabine, öffnet den Deckel und lässt den Urin in das bereits Warme, Feuchte hinunterströmen. Zieht eins der Handtücher vom Trockner. Das Handtuch ist feucht. Kehrt mit ihm in die Zelle zurück, mit den Zähnen reißt sie einen langen Streifen ab, dabei denkend (was konnte Gudrun wohl gemeint haben) , wiederholt die Prozedur (Drohung oder Warnung, oder vielleicht nur ein Versuch, mich zurückzurufen) ; dann noch einmal: drei dicke Streifen. Es reicht nicht. Sie holt ein weiteres Handtuch und hat kurze Zeit später sechs davon.
    Jetzt beginnt das Schwierige. Die Streifen so zu zwirbeln, dass sie ausreichend dünn werden, und dann eine Methode zu finden, um sie miteinander zu verbinden. Sie feuchtet die Streifen mit Speichel an, zieht und dreht, bis ihr die Finger schmerzen; steigt dann auf den Stuhl und versucht, den zusammengeknoteten Streifen durch das Loch in dem dünnen Gitternetz zu fädeln, um das Fensterkreuz dahinter zu erreichen. Noch immer ist der Streifen zu dick, sie bekommt ihn noch nicht einmal hindurch.
    Seltsam: dass sich eine so einfache Handlung als so schwer erweisen sollte. Ihr zittern die Hände. Zeit, sich zurückzuziehen zur Einzelkonsultation.
    *
    01.25. Die Toilette hört auf zu spülen. Es geht schrittweise vor sich. Langsam zieht sich das Wassergeräusch in sich selbst zurück, es ist, als würden Toilettenbecken und Waschbecken nun gemeinsam den Atem anhalten.
    Und Ulrike wird zurückgelassen: buchstäblich an ein anderes Ufer gespült. Das Schweigen im Raum hat von neuem seinen Charakter verändert. In der Dunkelheit existiert etwas, das einer Aufforderung gleicht, einer gespannten Zurückhaltung: so als stände etwas im Raum bereit, um die Initiative erneut an sich zu reißen, wartete nur darauf, was sie möglicherweise tat.
    Sie überdenkt die bisherigen Schritte des Vorhabens. Die Matratze unterm Fenster, der Stuhl auf der Matratze; »die Rettungsleine« für den Augenblick schlaff aus kraftlosen Fingern hängend. Sie denkt: betrachte noch einmal das Feindschema. Die von der Wachmannschaft getauschten verschwörerischen Blicke, Ensslins unbeschriebenes Gesicht bei der Betstunde am Morgen, sie hat losgelassen; scheint nicht einmal verwundert, dass ihre Mitschwester nicht stärker reagierte, auf das, was nur als Ausschluss aus der Gruppe verstanden werden konnte; triviales Gerede, gefolgt von: Du sollst wissen, dass du immer mit unserer Loyalität rechnen kannst. Eine Loyalität, die nur dem Namen nach existiert: die Pflichtfassade, die sie am nächsten Morgen im Gerichtssaal aufweisen können.
    Und Herold, Buback und seinen Sturmtruppen? Wenn sie angreifen, wird das zur Nachtzeit erfolgen, typische Bullenstrategie: in die »Weichteile« schlagen, dann, wenn du am schwächsten bist. Muss logisch denken: Was würden sie durch ihr Aussteigen gewinnen? Erkennt keine offensichtliche Strategie, ausgenommen den nahezu routinemäßigen Vernichtungszwang. Soweit sie nicht den derzeitigen Zeitungsstreik nutzen wollen, um sicherzugehen, dass ihnen auch dieses Schweigen in die Hände arbeitet.
    Ulrike lauscht »nach draußen«: doch abgesehen vom Radio, das jetzt in den frühen Nachtstunden zu klassischer Musik übergegangen ist, gibt es nichts Wahrnehmbares zwischen ihrem Gedanken und dem tieferen Schweigen im Raum, zwischen ihrem Willen und den Dingen, die sie vorbereitet hat, um ihn durchzusetzen. Der Rückzug des Wassers hat es deutlich gemacht: es liegt jetzt an ihr, zum ersten Mal liegt alles nur noch an ihr: es gibt keinen Namen, um dahinter Deckung zu suchen, keine Handlungsfolge, um die Aufmerksamkeit durch sie abzulenken, und die Angst vor dieser gänzlich eigenen Wahl ist einenAugenblick lang so stark, dass sie mit den Gedanken nach anderswo ausweichen muss. Sich »schlaff« machen, »willenlos«, »zerstreut« werden muss. Aber es ist
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