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Theres

Theres

Titel: Theres
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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lassen. (Dein Hass auf die deutsche Presse ist bestens bekannt, Ulrike, und möglicherweise begreiflich mit deinem Hintergrund als Journalistin der faschistischen Propagandaorgane; aber du darfst dich durch diesen Hass nicht verblenden lassen …)
    Während des Gesprächs sagt Meinhof nur wenig; danach sagt sie: Sie streiken . Und bei dem Wort »Streik« schaltet sich die Aufnahmeapparatur automatisch ein:
    UM: Sie streiken.
    GE: Wer denn?
    UM: Die Zeitungsdrucker.
    GE: Leider, was uns angeht. Es hätte der Sache nicht geschadet, wenn unser heutiger Sieg im Gericht Verbreitung gefunden hätte.
    UM: Aber siehst du nicht das Exemplarische an dieser ganzen Aktion? Ein einziges diszipliniertes Aufbegehren, Drucker und Setzer verlassen ihre Arbeitsplätze, und Springer steht einfach da mit all seinen Lügen.
    GE: Ich begreife dich nicht, Ulrike. Früher hast du zu denen gehört, die an ein kollektives Aufbegehren nicht glaubten, wenn es nicht von einer aufgeklärten Führung gelenkt wurde.
    UM: Wenn diese Führung mit dem eigenen Willen der Massen verbunden wäre, ja. Ich spreche hier nicht von Kadermoral.
    GE: Für dich geht es also nicht um sie, sondern um uns.
    UM: Nein, es geht um mich . Letzten Endes geht es nur um mich.
    *
    (Kleine Lüge: Teil einer größeren Wahrheit?)
    Im Nachhinein wird Ensslin, auch vor der Gruppe, bezeugen, das Gespräch hätte in vertrauter, entspannter Atmosphäre stattgefunden, Meinhof habe den Sitzungsraum dann sichtlich erleichtert verlassen; als hätte sie sich (noch immer Ensslin zufolge) endlich einer Sache entledigt, die nicht nur für sie schwer zu tragen war.

Autoritätskisten

    Noch verbliebene Aufgabe: Wie einen Zustand beschreiben, der sich nie verändert? Die Beschreibung bewegt sich schließlich ständig voran – greift vor, verschiebt, wiederholt, legt zurecht. Der Zustand hingegen liegt fest. Wann hat sich die Beschreibung dann derart weit von ihrem Gegenstand entfernt, dass das Einzige, was sie zu vermitteln vermag, eine Schein-Wirklichkeit ist, Katarakte aus Wörtern, die nur dastehen, einander stützend, eine rhetorische Hülle, die keinerlei Inhalt umschließt? Zur gleichen Zeit, wie der Zustand weiterbesteht, in seiner unbeschreiblichen Beständigkeit realer, dauerhafter als alles andere.
    *
    Stuttgart-Stammheim, 8. Mai 1976, 21.20 Uhr. Ulrike an ihrer Schreibmaschine, schreibt an Hanna:
    Du bist wie alle anderen: sie reden davon, sich mal an den, mal an jenen zu wenden: so als würde sich je etwas ändern lassen, indem man sich auf diese feige, demütigende Weise unterwirft. Doch man fragt sich – all diejenigen, an die du dich wendest, die Bürgerrechtsbewegung in den USA , Amnesty, haben doch ihre Gründe, um deine Worte in ihre Taten umzusetzen. Sie sind AUTORITÄTSKISTEN . Genau wie Brandt, der, wenn er über den »Normalzustand« spricht, alles in seine gesunden Gussformen packen will, aber die Form, von der er spricht, ist nicht materiell – er verteidigt keineswegs den natürlichen Zustand der Dinge –, sondern sie ist ideologisch. Dasselbe bei dir. Man erklärt dir, wie die Dinge sein sollen, und mit deiner Ausführung bestätigst du es nur. ABER DU BIST DOCH HIER . Der Internationalismus, in dem du gekämpft hast undzu dem du durch die RAF gehörst, ist nicht der solcher internationalen zwischenstaatlichen Organisationen wie der UNO und Genf, sondern Kampf, KRIEG . Du kannst dich im Krieg nicht orientieren, wenn du von Gerüchten ausgehst, sondern nur durch das Studium der Tatsachen und ihres Zusammenhangs im Klassenkampf. Wenn du in der Isolation nicht Energie genug hast, andauernd und immer an der Wirklichkeit festzuhalten, indem du sie auf den Begriff bringst, dann wirst du weiß, hebst ab, wirst krank, das heißt, du bekommst ein krankes Verhältnis zur Wirklichkeit, und das geht nicht. DU BIST HIER, DU BIST, DIE DU BIST, INDEM DU HIER BIST , und musst ständig genau das sein: KAMPF DEN STRUKTUREN , das wichtigste Mittel der Entfremdung: AUTORITÄTSKISTEN , in die sie dich stopfen wollen.
    *
    21.35. Ulrike an ihrer Schreibmaschine, schreibt nicht mehr. Von irgendwoher ertönt Motorenlärm, sie erkennt das dumpfe tack-tack-tackende Geräusch der Rotorblätter des Hubschraubers; das eintönige Pfeifen, als er abhebt. Dann ein Ruf, Ulrike! (es klingt wie die Stimme von Ensslin), und: … verlass dich auf keinen , scheint die Stimme zu sagen. Sie stürzt zum Fenster, klammert sich daran fest, während sie zugleich zum Lüftungsgitter hoch schreit: Gudrun?
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