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Theres

Theres

Titel: Theres
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Turmzimmer auf dem Boden verstreut in dem, was in der noch überlebenden Ulrike von einer lebendigen Erinnerung übrig ist.
    Das verpflichtet. Vor dem Geräusch der Wasserorgel wächst es fast zur Forderung. Zuerst: auflösen und ordnen , dann: in der Wand verschwinden. Sie muss beinahe lachen. So sieht der Kreislauf des Gefangenen aus, wenn er vollendet ist: Der Gefangene wird zur Zelle selbst. Dann können andere Gefangene in die Zelle gesperrt werden. Und die Wände wachsen und werden in ihrem Widerstand am Ende unerbittlich.
    Ulrikes neuer Blick auf die Dinge, aus ihrer Position als »Wandverbundene«:die Bücher in ihren Fächern, »gespaltene« Rücken (sie ordnet sie in schnurgerade Reihen); die Schreibmaschine mit ihrer Schicht verspritzter, erstarrter Tipp-Ex-Flüssigkeit (mit einer Nagelfeile kratzt sie das Gehäuse sauber, wischt es mit dem noch immer aus dem Hahn laufenden warmen Wasser ab); der Indianer in seiner schwarzen Einfassung, »der Rahmen schief, der Köcher leer«; sie reißt den Rahmen ab und klebt das Bild in ihr Totenbuch, klebt auch Bilder von »Baader«, »Ensslin« und »Raspe« ein, ihren Geschwistern des Verrats. Bei »Müller« zögert sie. Müller hatte sich mitunter ja als »ein anderer« erwiesen; seine Hände, wenn sie sie berührten, voll heilender Kraft: etwas, das hinausreichte über dieses konfliktgeladene, ständig herrschende Kommando-Jetzt: den Zwang zu handeln, unentwegt die Pose der Verstellung zu suchen; ein Akteur in deren Drama zu sein. Doch auch »Müller« muss hinein in das Buch. Hier existiert eine Gewissheit, die sich erst jetzt in Worte fassen lässt: dass all das, was ist, nun bereits gewesen ist. Das ist der einzige Zweck des Ordnens: all das, was noch lebt und tätig ist, auf tote Vergangenheit zu reduzieren. Zum Geräusch des strömenden Wassers steigt der Blauwal an die Oberfläche und wird von den Harpunen aufgespießt; ein ganzes Netzwerk Harpunenseile umschlingt den Leib, so dass er an Deck gehievt werden kann. Dann wartet die Zerlegung. Auch die Zerlegung ist ein Teil der Ordnung des Ordnens: zerteilen, ausnehmen, Bestandteile abtrennen; »sterbliche Überreste«.
    Nach erledigtem Tun kann Ulrike nicht atmen. (Man atmet nicht in Wänden, man lässt die Wände für sich atmen: Bislang begreift das aber allein Theres.) Irgendwann am Abend fällt sie daher erschöpft zurück in den Raum:
    Man sollte den Walen künstliche Löcher verkaufen!
    Was haltet ihr davon?
    Künstliche Löcher. Solche kleinen abnehmbaren ILLUSIONSLÖCHER .
    Wo auch immer man dann die Schnauze herausstreckt, ist man frei.
    Sollten doch herstellbar sein zu angemessen niedrigen Preisen. Künstliche Löcher, irgendwie. Tragbare.
    WAS HALTET IHR DAVON, IHR DRECKSÄCKE ?
    Niemand antwortet. Nur einer lauscht, und diese Person legt in diesem Moment klugerweise die Kopfhörer beiseite. Wenn die Wände Ohren haben, gibt es auch eine Grenze dafür, was Wände zu hören ertragen.
    *
    22.40. Sie wartet. Denkt: Nur mein Bild fehlt noch. Denkt: Aber das haben natürlich die. Denkt weiter, dass die nichts anderes getan haben, als sie ihrer Bilder zu berauben, wenn nicht der Polizist, der die Hand durchs Wagenfenster steckte und ihr Sabine Marckwort wegnahm, dann eben Ensslin. (Erinnert sich ihres Angriffs auf dieselbe: Wie soll ich überhaupt ich selbst werden können, wenn ich die ganze Zeit gezwungen bin, mit Bildern zu koexistieren, die sich Schweine wie du von mir machen , und Ensslins höhnische Antwort: Du selbst werden , was glaubst du dann, wer du die ganze Zeit gewesen bist, Ulrike? )
    »Du bist die, die du hier bist.« Wohl kaum. Es geht um zugeschriebene Positionen, alles. Sie denkt: herauskommen aus dem Benennungszwang.
    Sie wartet, und im Inneren des Gedankenraums existiert beinahe eine Sehnsucht zurück nach Ossendorf. Licht und Dunkel waren dort greifbarer. Es gab »Lichtwächter«, die in die Zelle kamen, wenn die Tagzeit zu Ende war, schraubten die Glühbirnen heraus und nahmen sie mit zur Aufbewahrung bis zum nächsten Morgen. Ihre Sorge schenkte ihr zumindest eine Art Identität, wenn auch nur diese primitive: für sich selbst gefährlich zu sein. Hier geht das Licht einfach aus. Es geschieht pünktlich, wenn der Uhrzeiger auf 23.30 steht, bisher haben sie es um keine Sekunde verfehlt.
    23.30. Das Licht geht aus.
    *
    Das Warten wird nun zu einem Warten anderer Art. Das Geräusch des Wassers, jetzt, wo es kein Licht gibt, kompakter, in gewisser Weise aber wirkt es nicht mehr so
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