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Theres

Theres

Titel: Theres
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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dass sich alles in Bewegung und Veränderung befindet: somit ist die Wirklichkeit nicht erfassbar. Formuliere ein Naturgesetz, und sogleich hast du tausend Ausnahmen formuliert und tausend Arten, diesem zuwiderzuhandeln …
    Die Landschaft, durch die Herold fährt, ist jedoch fest verankert; das Einzige, was hier verwandelt wird, ist Geld. Belege dafür finden sich direkt vor den gepanzerten Autotüren. Neonabfall aller Nachtclubs und Kasinos von Wiesbaden schwappt in Wellen über den schwarzen Asphalt, und vor den grell erleuchteten Eingängen bewegt sich schattenhaft eine Gruppe Menschen, im Smoking oder in herausfordernd geschlitzten Röcken. Herold denkt sich einen »Kronzeugen« in Form eines passend ausgebufften Croupiers, dem er sich würde nähern können, selbst ebenfalls im Smoking und in Begleitung seiner Leibwächter (ohne Frage: etwas anderes wäre völlig undenkbar). Rote und gelbe Jetons auf grünem Filz; das Glücksrad rotiert:
    HH: Wir gegen die. Auf wen würden Sie setzen?
    Cr: Wollen Sie einen Haufen Geld verdienen, dann setzen Sie auf die!
    HH: Heißt das, die haben keine Aussicht zu gewinnen?
    Cr: Ich verstehe die Frage nicht. Was wollen Sie eigentlich? Gewinnen, oder einen Haufen Geld verdienen?
    Gewinnen? , sagt Herold, noch immer zu dem die Antwort schuldig bleibenden Fahrer: Es geht darum, wer recht hat! Herold blickt aus dem Seitenfenster, sieht die erleuchteten Spielclubs vorübergleiten, die gesamte Tingeltangel-Republik in ihrer unverstellten Gier, und müde, wie er ist, obwohl sich durchaus im Klaren, dass auch heute Nacht nicht an Schlafen zu denken sein wird, beugt er sich zum Fahrersitz vor und sagt: Fahren Sie mich an einen vollkommen anderen Ort. Der Fahrer, der jede Anweisung wörtlich nimmt, fährt ihn zur städtischen Müllverbrennungsanlage: Winterweg (das Geleit folgt pflichtschuldig nach), und hier erwartet ihn die Dämmerung. Der Himmel wird von einem festen, klaren Schein erleuchtet; Freiheit für die Gefangengehaltenen.
    *
    Herold steht auf der Kuppe des Müllbergs, umgeben von ausrangierten und bereits verrosteten Kinderwagenskeletten, Autokarosserien, Kühlschränken mit ausgedientem Kühlaggregat, Batterien, defekten Staubsaugern, aufblasbaren Plastikgegenständen, in ihrem derzeitigen durchlöcherten Zustand von völlig unbegreiflicher Funktion, und sieht sie kommen. Langsam, mit weit ausgespannten, im schwachen Wind kaum bewegten Flügeln segeln die Möwen vom Himmel herunter, mit untrüglichem Instinkt stoßen sie auf Essbares herab und steigen in kreischenden Scharen wieder auf. Herold folgt ihrem Herabstoßen und plötzlichen In-der-Luft-Schweben mit wachsender Faszination, und allmählich gibt es in seinem verdunkelten Sinn Platz für mehr als nur das Gefühl der Niederlage. Die Gewissheit, selbst sühnen zu müssen, erzeugt in diesem Augenblick, Stunden vor der unvermeidlichen Konfrontation, ein Gefühl des Beteiligtseins, das er fast als Euphorie erlebt. Er flattert und schlägt selbst ein wenig mit den Flügeln, als wäre es taktisch richtig, nun abzuheben; das Leben, das er besiegt hat, zu besiegeln, indem er selbst die Bühne verlässt.
    Ihm aber steht kein derart spektakulärer Rückzug zu. Er wird sich für alle Zeit diesseits des Wirklichen und Möglichen befinden; sein Auftrag: all das zu bekämpfen, was die aufgeklärte Rationalität der Welt bedroht, und dann Zeugnis abzulegen über den erfolgreichen Kampf.
    Die Leibwächter schlendern ein wenig lustlos umher und stochern mit den Spitzen ihrer blankgeputzten Schuhe im Müll.
    Der Fahrer sitzt mit offener Wagentür da, beide Beine auf dem Boden, raucht eine Zigarette in langen, gedankenvollen Zügen. Kurze Zeit später ertönt ein dünnes, scharfes Signal aus dem Auto. Der Fahrer lässt die Zigarette fallen und beugt sich hinein.
    Herold, Telefon für Sie …
    Wer ist es?
    … jemand, der sich Meinhof nennt.
    Herold ist bereits unterwegs.
    Gut. Bringt mich zu ihr.

Lüge und Nachruf

    Jan-Carl Raspe hat um das Wort ersucht. (Ich möchte das Gericht darauf hinweisen, dass es das letzte Mal sein wird.)
    Hätte sich Ulrike entschlossen zu sterben, weil sie das als letzte Möglichkeit sah, sich revolutionäre Identität gegen die langsame Zerstörung des Willens in der Agonie der Isolation zu behaupten, hätte sie es uns gesagt, auf jeden Fall Andreas. So war deren Beziehung. Es war eine Beziehung, wie sie sich zwischen Geschwistern entwickeln kann, orientiert am politischen Ziel. Im Rahmen der Möglichkeiten
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