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The Walk: Durch eine zerstörte Stadt (German Edition)

The Walk: Durch eine zerstörte Stadt (German Edition)

Titel: The Walk: Durch eine zerstörte Stadt (German Edition)
Autoren: Lee Goldberg
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den anderen an, hob Stein um Stein auf und warf die Bruchstücke hinter sich, so schnell er konnte.
    Das war wirklich übel. Marty war ein echter Kalifornier und sein Arsch eine natürliche Richterskala, mit einer Genauigkeit von zwei Stellen hinter dem Komma. Er wusste, dass das Northridge-Beben eine 6,5 war, bevor das California Institute of Technology zu Ende gemessen hatte. Und sein Arsch sagte ihm jetzt: Das hier war größer. Viel größer. Jenseits seines Erfahrungsspektrums.
    »Mein Bruder!«, kreischte jemand.
    Es war der Typ neben Marty, einer der Bühnentechniker, einer der Leute, die das ganze schwere Equipment am Set hin- und hertragen. Dem Typen fehlte ein Ohr, Blut färbte sein Panavision-Shirt von der Schulter bis hinunter zu seinem Werkzeuggürtel rot. Aber der Kerl bemerkte das nicht einmal; er wiederholte einfach nur ständig denselben Satz, während er sich durch die Trümmer kämpfte.
    »Mein Bruder ist da drin«, sagte er. »Mein Bruder ist da drin.«
    Er sagte es wieder und wieder und wurde immer hektischer, je öfter er es wiederholte. Marty konzentrierte sich darauf, in dem Geröll direkt vor sich zu buddeln. Er wusste nicht, was er sonst tun sollte.
    Wo zum Teufel war die Feuerwehr? Die Polizei? Warum hörte er keine Sirenen?
    »Hier drüben!«, schrie einer der Caterer.
    Sofort kletterten alle über den Schutthaufen, um ihm zu helfen, die Steine zur Seite zu wuchten. Zuerst legten sie ein blutiges Hosenbein frei, dann eine große, silberne Gürtelschnalle.
    Mehr brauchte Marty nicht zu sehen. Sie hatten Irving Steinberg gefunden, den Executive Producer, einen New Yorker Juden, der sich kleidete, als wolle er gerade zum Viehtrieb. Irving nannte seinen allgegenwärtigen Stetson gerne seine »Zehn-Gallonen-Kippa«.
    In Wahrheit trug Irving den Stetson, weil er der Meinung war, dass er weniger peinlich und unauffälliger sei als selbst das teuerste Toupet. Schaut euch doch nur Burt Reynolds oder William Shatner an, pflegte Irving zu sagen. Würden die mit Hüten nicht viel besser aussehen?
    Irving brachte Marty immer zum Lächeln. Genau genommen war Marty gerade mit einem solchen von Irving verursachten Lächeln hinausgegangen, als das Rumpeln losging.
    »Bring dieses Format in das Herbstprogramm«, sagte Irving, »und ich kann mir endlich meinen Traum leisten.«
    »Der wäre?« fragte Marty, bereitwillig den Stichwortgeber spielend.
    »Meine eigene Ranch«, antwortete Irving. »Mitten in Bel Air. Ich werde sie den Bar-Mitzvah-Bauernhof nennen.«
    Sie brachten den Rest von Irving zum Vorschein.
    Ohne seine Markenklamotten wäre er nicht identifizierbar gewesen.
    Marty wich zurück, kopfschüttelnd, er hatte Mühe, das Gleichgewicht nicht zu verlieren, als er davonlief. Irving war tot. Noch vor wenigen Minuten hatte Irving sich mit ihm unterhalten, Witze gerissen und Pläne geschmiedet, und jetzt war er tot.
    Wie konnte das sein?
    In diesem Moment drehte jemand die Lautstärke der Welt auf. Martys Ohren wurden mit einem schrillen Hupkonzert und einem Chor von Autoalarmtönen bombardiert, durchsetzt mit dem gedämpften Poltern und Knallen von Explosionen, wie Salven auf einem fernen Schlachtfeld.
    Marty sah auf.
    Es war, als ob nach einem Film die Lichter im Kino wieder angingen und man die Wände, Sitzreihen und Kinobesucher wieder wahrnahm, die man vollkommen vergessen hatte. Diesmal aber gingen in Martys neuer Welt die Lichter an.
    Alle Lagerhallen in dem heruntergekommenen Gewerbegebiet waren entweder in sich zusammengeklappt oder zu Geröll reduziert, und über allem hing eine riesige Staubwolke. Die einzige noch intakte Bausubstanz war ein herrschaftlicher Verschlag aus Pappe in einer kleinen Gasse, aus dem sein Besitzer zögerlich und mit dreckverschmiertem Gesicht auf die Zerstörung ringsum spähte, dann verschwand er wieder nach drinnen, eine Papptür fiel hinter ihm zu. Seine Behausung war die einzige weit und breit, die den Bauvorschriften zu entsprechen schien.
    Marty drehte sich um und sah die Brücke an der 6th Street. Der Art-Déco-Riese sackte in die zementierten Flussufer des L. A. River, und ein Strom von Autos ergoss sich in das verschmutzte Rinnsal. Eine lange, silberne Reihe von Metrolink-Waggons war entgleist und baumelte nun über der senkrechten Betonböschung wie dekoratives Lametta. Flammen züngelten aus den Fenstern, das flackernde Licht spiegelte sich in der zerbeulten Metallhaut.
    Marty drehte sich noch einmal um und sah die Skyline der Innenstadt von Los Angeles.
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