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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Autoren: Christoph Rehage
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seinem Schicksal enttäuscht wurde und es vorzog, sich in eine Welt aus Erinnerungen und Phantasie zurückzuziehen. Steckt vielleicht in jedem Heimkehrenden ein kleiner Millionär?
    Ich streiche mit der Hand über den kühlen, hellen Stein des Geländers. Mir gefällt die Vorstellung, dass der venezianische Reisende vor so langer Zeit einmal an dieser Stelle gestanden haben könnte, vielleicht in ein weites Gewand gehüllt wie die chinesischen Händler der Kaiserzeit, mit einem Kamel oder einem Pferd an der Hand, hinter sich die mächtigen Tore der Kaiserstadt und vor sich den langen, steinigen Weg nach Europa.
    Eine Gruppe Touristen läuft wild durcheinander und macht Gruppenfotos, am liebsten vor den Löwenstatuen am Geländer. Sie sind so energiegeladen und vor allem so gepäcklos, dass ich mir vorkomme wie ein Elefant inmitten einer Herde Gazellen. Am liebsten würde ich mich einfach nur hinsetzen.
    »Guck mal, der Ausländer!« Eine Dame mit einem bunten Stoffhut, der entfernt an eine Bademütze erinnert, hat mich erspäht und zählt begeistert und ungeniert die sichtbaren Teile meines Gepäcks auf: »Zelt, Schlafmatte, Wanderstöcke, und schau doch mal, sogar Badelatschen hat er an seinem Rucksack hängen! Wo der wohl hinwill?«
    »Oh!«, macht ihr Begleiter entzückt, und auch der Rest der Gruppe schaut erwartungsvoll in meine Richtung. Ob sie mir ansehen können, dass ich sie verstanden habe? Werden sie gleich Gruppenfotos mit mir machen, die Finger zum V erhoben und die Zähne zum fotogenen Grinsen gefletscht? Nichts wie weg hier! Ich stürme so eilig auf das andere Ende der Brücke zu, dass mein Zelt, meine Schlafmatte, meine Wanderstöcke und meine Badelatschen hinten am Rucksack nur so auf und nieder hüpfen.
    Warum bin ich nur so scheu, wenn es um mein Vorhaben geht? Aus Beijing habe ich mich fortgeschlichen wie ein Dieb, und die Reisegruppe im Hotel gestern Abend habe ich schlicht und einfach angelogen.
    Wo ich denn hinzulaufen gedenke, war ihre zweite Frage, gleich nach der über meine Herkunft.
    »Nach … Baoding.«
    Ein Raunen. Eine der Damen vergaß sowohl weiterzukauen als auch den Mund zu schließen, und schließlich fand der Anführer der Gruppe, der auf dem besten Weg war, sich ordentlich einen anzusaufen, als Erster die Sprache wieder. »Baoding?! Aber das liegt vierhundert Li von hier! Da kannst du doch unmöglich zu Fuß hinlaufen!«
    Was sollte ich sagen? Vierhundert Li , das waren ungefähr zweihundert Kilometer, und ich war mir nicht sicher, ob ich das mit dem schweren Gepäck auf dem Rücken überhaupt schaffen würde. Dabei wollte ich eigentlich noch weiter bis zur alten Kaiserstadt Xi’an und dann durch die Wüste Gobi nach Mittelasien, um von dort bis nach Deutschland zu wandern. Aber das gab ich lieber nicht zu.
    Statt einer Antwort murmelte ich etwas von »mal sehen« und kaute beschämt auf meinem Mantou , einem Dampfbrötchen, herum. Den angebotenen Schnaps verweigerte ich wie immer und trank stattdessen eine Cola. Dann nahm ich eine Dusche und ging zeitig schlafen.
    Ich habe die Marco-Polo-Brücke und ihre Reisegruppen hintermir gelassen und biege auf die Hauptstraße nach Südwesten ein, Richtung Baoding. Da müsste ich in einer Woche ankommen, wenn meine Füße mitmachen. Ich kann sie schon jetzt spüren, die Blasen und wunden Stellen, die sich dort bilden, wo die Schuhe beinahe unmerklich drücken …
    Ein kleiner Junge in einem vorbeifahrenden Auto hat mich erspäht und gestikuliert aufgeregt nach vorn, damit seine Eltern meinen Anblick auf keinen Fall verpassen. Da klingelt schon wieder das Telefon. Peipei aus Beijing ist am anderen Ende, und ihre Stimme hört sich zutiefst unglücklich an. »Jetzt bist du wirklich losgegangen«, sagt sie. Ich starre auf meine staubbedeckten Schuhe und weiß nicht genau, was ich antworten soll. Sind wir nicht mittlerweile gute Freunde geworden? Ich mache irgendeine lockere Bemerkung darüber, wie nah ich der Stadt noch bin, doch sie lacht nicht.
    »Bitte schick mir ein Lied, das du beim Laufen gern hörst, okay?«, sagt sie, und ich nehme mir vor, heute Abend im Hotel zwei Lieder zu verschicken. Eines an Peipei und eines an Juli.
    Jetzt brauche ich erst mal etwas zu essen und vor allem mehr Guthaben für mein Handy, denn es kostet jedes Mal Geld, wenn ich einen Anruf entgegennehme. In der Dorfstraße von Changxindian sieht es aus, als ob ich Glück habe: Unter einem grünen Baldachin aus Baumkronen erstrecken sich links und rechts
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