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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Autoren: Christoph Rehage
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Zeichen, das sich so ähnlich anhört. Lei zum Beispiel, das heißt ›Donner‹.« Ich war begeistert.Kati fuhr fort, indem sie aus der ersten Silbe meines Vornamens ein chinesisches Ke machte, das so viel wie »erobern« oder »überwinden« heißen konnte. So bekam ich meinen chinesischen Namen, bestehend aus zwei Zeichen: Leike , »Eroberer des Donners«.
    Jetzt stehe ich voll bepackt in der Stille des Treppenhauses und lese unweigerlich noch einmal die beleidigenden Zeichen an der Wand: »Billige Schlampen für Leike!«
    Xiaohei hatte damals vergeblich versucht, die Sätze mit einer Spraydose unleserlich zu machen. »Eine Frau würde nie das Wort Fotze benutzen«, erklärte er mir. »Das muss ein Mann geschrieben haben. Vielleicht ein gehörnter Ehemann oder ein eifersüchtiger Verehrer? Du solltest ein bisschen vorsichtiger sein!«
    Mit einem Bing öffnet sich die Fahrstuhltür, und ich zwänge mich in den Aufzug. Ich drücke die 1, die Tür schließt sich. Ein letztes Mal lese ich das Wort »Ausländer«, dann rumpelt der Fahrstuhl das Gebäude hinunter. Ich werde wohl nie erfahren, von wem die Beleidigungen stammen, denke ich, als ich aus der Haustür in den Sonnenschein trete. Ich muss die Augen zusammenkneifen, so strahlend hell und schön ist mein Geschenk an mich selbst: der erste Tag meiner Wanderung nach Hause.

DER MILLIONÄR
    Irgendetwas vibriert, und eine Melodie ertönt. Ich öffne die Augen und starre in die fensterlose Dunkelheit. Verdammter Handyalarm, warum habe ich den gestern nicht ausgeschaltet?
    Ich taste nach dem schwach blauen Glimmen neben meinem Schlafsack und brauche einen Moment, um zu erkennen, dass es sechs Uhr morgens ist und mich gerade jemand aus Deutschland anruft. Dort muss es mitten in der Nacht sein , denke ich, während ich das Telefon ans Ohr halte.
    Es knistert, dann höre ich die Stimme meines Vaters. Er ist besorgt, weil ich gestern mein Telefon ausgestellt hatte. »Pass auf dich auf, mein Sohn!«, wiederholt er immer wieder, und trotz der schlechten Verbindung meine ich, eine Mischung aus gutem Willen und Resignation in seiner Stimme zu hören. »Teil dir deine Kraft vernünftig ein!«
    Ich muss lächeln. Wie gern würde ich ihm von meinem ersten Reisetag berichten: von dem freundlichen Abschiedswinken der Omas und Opas unten im Hof, von meinem Zickzackweg durch das rechtwinklige Straßennetz der Kaiserstadt, vom Gezerre und Geschiebe durch die Menschen- und Automassen und davon, wie ich dann schließlich doch noch irgendwann abends in einer kleinen Herberge diesseits der Marco-Polo-Brücke ankam, wo mich eine Gruppe Touristen bei sich zum Essen aufnahm und mich neugierig über mein Vorhaben ausfragte.
    Stattdessen sage ich: »Mach dir keine Sorgen, ich passe schon auf mich auf.«
    Eine knappe Stunde später stehe ich auf der Marco-Polo-Brücke, die eigentlich Lugouqiao, »Schilfrohrgossenbrücke«, heißt, und kann es kaum glauben: Ich habe es tatsächlich geschafft, mein erstes kleines Etappenziel liegt direkt vor mir!
    »Zehn Meilen nach Cambaluc gelangt der Reisende an den breiten Fluss Pulisanghin. Kaufleute mit ihren Waren fahren darauf bis zum Ozean. Eine prächtige steinerne Brücke führt über den Fluss; auf der ganzen Welt ist keine mit ihr zu vergleichen.« So hat Marco Polo diesen Ort vor mehr als siebenhundert Jahren beschrieben.
    Cambaluc – eigentlich Khanbalik, Stadt des Groß-Khan –, das war die glanzvolle Residenz der mongolischen Herrscher, die etwa am gleichen Ort wie das heutige Beijing lag. Die Brücke ist noch da, zumindest eine restaurierte Version aus dem siebzehnten Jahrhundert. Der Fluss jedoch scheint zu fehlen; da ist allenfalls noch ein Rinnsal in einem endlosen Bett aus Staub, ein trauriger Anblick, der die mächtigen Brückenpfeiler irgendwie fehlam Platz erscheinen lässt.
    Das Morgenlicht ist sanft und verheißungsvoll. Ich lehne mich an das steinerne Geländer und genieße es für einen Moment, das Gewicht meines Rucksacks darauf ablegen zu können. Ob Messer Marco damals wirklich bis hierher gekommen ist? Es gibt Leute, die behaupten, seine Beschreibungen bestünden nur aus Geschichten, die er von anderen Reisenden aufgeschnappt habe, doch ich bin mir da nicht so sicher.
    Die Venezianer nannten Marco Polo jedenfalls nach seiner Rückkehr einfach nur spöttisch »Millionär«, weil er ohne Unterlass vom Prunk des Khans und seinen eigenen ehemaligen Besitztümern in dessen fernen Landen erzählte. Er kommt mir vor wie jemand, der von
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