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The Forest - Wald der tausend Augen

Titel: The Forest - Wald der tausend Augen
Autoren: Carrie Ryan
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sanft weiter. Er gesteht mir den Kummer im Gesicht zu, versteht, warum die Tränen leise fließen, auch jetzt noch, drei Tage, nachdem wir Travis verlassen haben.
    Beide haben wir unsere Liebe an die Ungeweihten verloren. Beide sind wir gezwungen gewesen zu töten.
    Hinter uns brennt immer noch das Feuer und treibt uns voran. Alles ist von Asche bedeckt, sie macht die Welt um uns herum grau und trostlos. Die Luft ist dick, schwer zu atmen und das verlangsamt unsere Schritte mehr und mehr.
    Keiner von uns redet von Travis oder vom Feuer, von unseren schwindenden Vorräten, die wir zusammen mit Waffen von den Plattformen gerafft haben, ehe das Feuer sie verschlungen hat. Keiner von uns fragt sich laut, welche Wirkung das Feuer auf die Zäune haben wird, ob das Metall schmelzen und brüchig werden wird. Ob die Ungeweihten durch die Löcher schlüpfen, wo der Zaun der Hitze zum Opfer gefallen ist, und hinter uns auf den Pfad strömen.
    An jedem Tor, das wir erreichen und hinter uns schlie-ßen, stoßen wir Seufzer der Erleichterung aus. Aber dann holt das Feuer uns ein, während wir schlafen, und wir müssen weiter. Heiß, müde, erschöpft, hungrig, durstig.
    Einen Fuß vor den anderen. Im Rauch versuchen wir, einander im Auge zu behalten – und den in der Luft hängenden
Gestank nach verbranntem, trockenem Fleisch nicht zu riechen.
    Nur überleben. Existieren. Nur nicht als Erster in unserer Gruppe aufgeben.
    Manchmal, wenn meine Füße nicht voranwollen und meine Beine vor Müdigkeit zittern, wische ich mir mit dem Finger den Schweiß vom Hals und schreibe Travis’ Namen in die Asche, die meine Arme bedeckt. Ich weiß, ich kann ihn nicht enttäuschen und einfach stehen bleiben. Wegen mir ist er tot, da kann ich seinem Opfer keine Schande machen und mich weigern weiterzulaufen.
    Eines Nachts, als Träume von Travis drohen, mich in Tränen und Wut zu ertränken, entferne ich mich von der Gruppe. Ich brauche Luft und Einsamkeit. Am Horizont glüht die Nacht orange. Ich zittere, denn ich weiß, dass das Feuer stetig auf uns zukriecht und dass uns morgen wieder eine lange Verfolgungsjagd erwartet.
    Im Dunkel höre ich Geschniefe, ich schaue mich suchend um, bis ich eine kleine Gestalt entdecke, die sich wie zu einem Knäuel zusammengerollt hat und in die fernen Flammen starrt. Das ist Jakob. Ich gehe zu ihm, setze mich neben ihn und ziehe ihn auf meinen Schoß. Er wehrt sich. Argos, der Jakob seit dem Feuer nicht von der Seite gewichen ist, stupst meine Hand mit seiner kalten Schnauze.
    »Ich wollte das nicht«, sagt er mir, wieder einmal. Seit wir geflohen sind, entschuldigt er sich andauernd für das Feuer auf den Plattformen. Ich beruhige ihn, mit den Lippen
an seinem Haar. »Es tut mir leid«, schluchzt er, und ich halte ihn noch fester. Reue überkommt uns beide. Mir ist der Gedanke verhasst, dass er diese Schuld sein ganzes Leben lang tragen wird.
    »Kann ich dir ein Geheimnis erzählen?«, flüstere ich.
    Sein Schluchzen ebbt wieder zum Schniefen ab, und ich spüre, wie er nickt.
    »Meine Mutter hat mir immer Geschichten vom Meer erzählt und von Gebäuden, höher als die Bäume, die den Himmel berührten, und von Männern, die auf dem Mond herumliefen.«
    Er kichert. »Das denkst du dir nur aus, Tante Mary«, sagt er. Aber er will mir glauben, das merke ich.
    Ich beuge mich über ihn und flüstere. »Das ist wahr und ich kann es beweisen.«
    Dann hole ich das dünne Buch mit dem Foto von New York aus meinem Hemd und gebe ihm das Bild. Er hält es sich ganz dicht vors Gesicht und kneift die Augen zusammen. Im Schein des Feuers kann er gerade eben die Umrisse der Gebäude erkennen. Ihm stockt der Atem. »Was ist das?«, fragt er. Mit den Fingern fährt er an den Buchstaben entlang.
    »Ein Bild von einem Ort, den es vor der Rückkehr gegeben hat.Vielleicht gibt es ihn noch.«
    »Woher weißt du, dass er noch immer da ist?«
    Ich zucke die Achseln. »Glaube. Hoffnung«, sage ich. »Und deshalb gebe ich dir das. Damit du Geschichten hast, die dich voranbringen. Damit du an etwas anderes glauben kannst als an diesen Pfad.« Ich streiche ihm das Haar
aus der Stirn, so wie meine Mutter es immer bei mir gemacht hat.
    Nach einer Weile stehe ich auf, ziehe ihn auf die Füße und bringe ihn zum Schlafplatz der anderen zurück. Zum ersten Mal gleite ich ganz leicht in meine Träume und sie bereiten mir keinen Schmerz.
    Am nächsten Morgen trotten wir weiter den Pfad entlang. Mir fällt auf, dass Jakob den Kopf ein wenig
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