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The Cutting

The Cutting

Titel: The Cutting
Autoren: James Hayman
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legte ihre Pistole und ihre Taschenlampe auf den Felsblock vor sich. Gutes Schussfeld, um jemandem den Weg abzuschneiden, der zu Fuß oder im Auto aus dem Haus fliehen wollte. Allerdings war die Entfernung ziemlich groß für eine Handfeuerwaffe – und sie konnte nur diejenigen sehen, die in Richtung Straße flüchteten, nicht die, die nach hinten, in Richtung Wald liefen.
     
    Lucinda Cassidy erwachte zu Hause in ihrem Bett, in ihrem Zimmer in North Berwick. Sie zitterte vor Kälte. Ihre Decke – die, die Granny für sie gemacht hatte – musste zu Boden gefallen sein. Mommy rüttelte sie am Arm, weckte sie für die Schule.»Los, Lucy, steh auf, sonst kommst du zu spät. In einer halben Stunde kommt der Bus, und du sollst nicht schon wieder ohne Frühstück aus dem Haus gehen. Steh jetzt auf.«Sie versuchte, die Augen aufzuschlagen. Nein, sie waren bereits offen. Warum konnte sie nichts sehen? Sie blickte sich um. Kein Licht. Sie zwang sich zur Konzentration. North Berwick war Vergangenheit. North Berwick war nur ein Traum. Nicht zu Hause. Nicht bei Mommy. Immer noch hier in der kalten, endlosen Nacht, allein mit ihrem Liebhaber. Sie konnte die leichte Baumwolle des Krankenhauskittels fühlen, der ihre Vorderseite bedeckte. Er war im Nacken geknüpft und am Rücken offen.
    Aber sie lag nicht mehr im Bett. Unter sich spürte sie eine harte Metallfläche, die sich kalt an die nackte Haut ihres Rückens und ihres Pos schmiegte. Dann hörte sie ein Klavier, nur schwach und sehr weit entfernt, das eine irgendwie vertraute Melodie spielte. War das ein Teil ihres Traums? Nein. Es klang echt, obwohl ihre Träume in letzter Zeit so lebendig geworden waren, dass sie nicht mehr sicher sein konnte, was eigentlich echt war und was nicht. Er musste sie irgendwo anders hingebracht haben. Mit der Spritze betäubt und irgendwo anders hingebracht. Das einzige andere Geräusch war ein weißes Rauschen, genau wie in dem ersten Haus auch. Nur irgendwie anders, ein bisschen höher. Kaum wahrnehmbar, aber doch, ja, eindeutig höher. Was noch? Der Geruch. Ein Hauch von Desinfektionsmittel und dazu Tannenduft. Echte Tanne. Von Bäumen. Kein chemisches Zeug. Die Tannen waren vorher nicht da gewesen. Was wahrscheinlich das Schlimmste war: Sie konnte ihre Arme und Beine nicht mehr bewegen. Er hatte ihr die Fesseln wieder angelegt. Warum hatte er das gemacht? Irgendetwas Neues war im Gang. Lucy wusste nicht, was es war. Die Todesangst, die sich im Lauf der Tage oder Wochen in eine konstante, unterschwellig an ihr nagende Besorgnis verwandelt hatte, flammte schlagartig wieder auf.
    Die Tür öffnete sich, und das Licht aus dem Flur blendete sie. Sie machte die Augen zu. Er schloss die Tür. »Wie ich sehe, hast du dein Schläfchen beendet«, sagte er und kam auf sie zu.
     
    McCabe rannte geduckt und im Zickzack auf das Haus zu. Seine hin und her huschende Gestalt hielt sich im Schatten, so dass er weniger sichtbar, weniger verwundbar wäre, falls jemand aus dem Fenster schaute. Er kletterte auf die Terrasse und stellte sich, den Rücken dicht an die Hauswand geschmiegt, neben eines der erleuchteten Fenster. Er zog seine Pistole, atmete ein paarmal tief durch, beugte sich nach vorne und linste hinein. Ein großes Zimmer mit holzgetäfelten Wänden. Bücherregalen. Originalen Ölgemälden.
     
    Im gemauerten Kamin glommen die letzten Reste eines abgebrannten Feuers. Über dem Kaminsims formten ein Paar Ruder von einem Rennruderboot ein großes X an der Wand. Auf einem der Ruderblätter waren die Worte »THE HALEY SCHOOL, HENLEY REGATTA, 1980« zu lesen. Darunter standen acht Namen. Einer davon lautete L. KANE, SCHLAGMANN.
    Der berühmte Maurice Kane saß dösend in einem Ledersessel vor dem Feuer, eine Decke über die Beine gelegt. Eine Stehlampe warf ein Mosaik aus Licht und Schatten auf sein Gesicht. Seine Haut wirkte alt, zerschlissen, hauchdünn. Mit offen stehendem Mund schlief er einen unruhigen Schlaf. Und eine Rasur hätte ihm auch nicht geschadet.
    McCabe stellte sich auf die andere Seite des Fensters. Ein mächtiger Konzertflügel dominierte die hintere Hälfte des Zimmers. Von drinnen hörte er Musik. Die Goldberg-Variationen von Bach. Da spielte Kanes jüngeres, lebendigeres Ich mit jener, so vermutete McCabe, geistreichen, scheinbar mühelosen Muskulosität, von der er gelesen hatte. Beim Klang der Musik erwachte in ihm ein stiller Zorn, den er nicht recht benennen konnte, ein Gefühl der Trauer, des Verlustes. Gefühle jedenfalls,
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