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The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)

The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)

Titel: The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
Autoren: Samantha Shannon
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Wollte das Überraschungsmoment nutzen. Sie hatten mich nicht weiter beachtet. Orakel waren nur gefährlich, wenn sie über gebundene Geister verfügten.
    Nicht so bei mir.
    Angst packte mich wie eine pechschwarze Welle. Mein Geist löste sich vom Körper und schoss auf Wache Nummer eins zu. Bevor ich wusste, wie mir geschah, brach ich in seine Traumlandschaft ein. Ich prallte nicht nur dagegen, nein, ich flog hinein und mittendurch. Schleuderte seinen Geist in den Æther hinaus, sodass sein Körper leer zurückblieb. Seinem Kumpel blieb kaum Zeit, einmal Luft zu holen, dann ereilte ihn dasselbe Schicksal.
    Ruckartig kehrte mein Geist in meinen Körper zurück. Bohrende Schmerzen breiteten sich in meinem Schädel aus. Es fühlte sich an, als würden Messer durch meine Haut stechen, Feuer in meinem Gehirn wüten, so heiß, dass ich mich weder bewegen noch denken konnte. Vage nahm ich den klebrigen Boden des Waggons an meiner Wange wahr. Was auch immer ich da gerade getan hatte, so schnell würde ich das nicht wiederholen.
    Der Zug ruckelte, offenbar näherten wir uns der nächsten Haltestelle. Mühsam stemmte ich mich auf die Ellbogen hoch, meine Muskeln zitterten von der Anstrengung.
    »Mr Linwood?«
    Keine Antwort. Ich kroch zu der Stelle, an der er zu Boden gegangen war. Als der Zug an einer Sicherheitslampe vorbeifuhr, sah ich sein Gesicht.
    Tot. Die Poltergeister hatten sein Bewusstsein ausgelöscht. Sein Ausweis lag neben ihm: William Linwood, dreiundvierzig Jahre alt, zwei Kinder, eines davon an Mukoviszidose erkrankt. Verheiratet, Bankangestellter, Medium .
    Wussten seine Frau und seine Kinder von seinem geheimen Leben? Oder waren sie Amaurotiker und hatten keine Ahnung?
    Ich musste die Threnodie aufsagen, sonst würde er für immer in diesem Waggon herumspuken. »William Linwood«, begann ich, »vergehe im Æther. Alles ist bereinigt, alle Schulden sind beglichen. Du musst nicht mehr unter den Lebenden verweilen.«
    Linwoods Geist schwebte vorbei. Ein leises Flüstern lief durch den Æther, als er mit seinem Engel verschwand.
    Die Lichter gingen wieder an. In meiner Kehle bildete sich ein dicker Klumpen.
    Hier lagen noch zwei weitere Leichen.
    Mithilfe des Wandgeländers zog ich mich auf die Füße. Meine Handflächen waren so feucht, dass ich mich kaum festhalten konnte. Vielleicht zwei Meter neben mir lag der tote Wachmann Nummer eins. Sein Gesicht schien in ewiger Überraschung erstarrt zu sein.
    Ich hatte ihn getötet. Ich hatte eine verdeckte Wache umgebracht.
    Sein Kollege hatte weniger Glück gehabt. Er lag auf dem Rücken und starrte zur Decke hinauf. Ein dicker Speichelfaden zog sich über sein Kinn. Als ich auf ihn zuging, begann er zu zucken. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter, und ich musste würgen. Ich hatte seinen Geist nicht weit genug fortgestoßen. Er trieb sich immer noch in den finstersten Winkeln seines Bewusstseins herum – in den geheimen, verschwiegenen Ecken, wo kein Geist sich aufhalten sollte. Er war verrückt geworden. Nein. Ich hatte ihn in den Wahnsinn getrieben.
    Entschlossen biss ich die Zähne zusammen. Ich konnte ihn nicht einfach hier liegen lassen. Nicht einmal ein verdeckter Wachmann hatte ein solches Schicksal verdient. Vorsichtig legte ich meine kalten Hände auf seine Schultern und wappnete mich für den Gnadenstoß. Er stöhnte auf und flüsterte: »Töte mich.«
    Ich musste es tun, das war ich ihm schuldig.
    Aber ich konnte nicht. Ich konnte ihn nicht umbringen.
    Als der Zug in den Bahnhof von I-5C einfuhr, wartete ich bereits an der Tür. Bis die einsteigenden Passagiere die Leichen entdeckten, war es zu spät, um mich noch zu erwischen. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits oben auf der Straße und hatte mir die Mütze tief in die Stirn gezogen, um mein Gesicht zu verbergen.

Kapitel Zwei
    D IE L ÜGNERIN
    Leise schlich ich mich in die Wohnung und hängte meine Jacke auf. Im Golden Crescent Wohnkomplex gab es zwar einen Vollzeitsicherheitswachmann namens Vic, aber der war gerade auf einem Rundgang gewesen, als ich hereinstürmte. Er hatte weder mein leichenblasses Gesicht gesehen noch meine zitternden Hände, als ich nach der Schlüsselkarte suchte.
    Mein Vater war im Wohnzimmer. Ich sah seine Füße, die er samt Pantoffeln auf einem Polsterhocker ausgestreckt hatte. Er schaute ScionEye, den Nachrichtenkanal, der in allen Scion-Zitadellen ausgestrahlt wurde, und auf dem Bildschirm verkündete Scarlett Burnish, dass die U-B ahn in Parzelle I soeben geschlossen
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