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The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)

The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)

Titel: The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
Autoren: Samantha Shannon
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aufreißen, werden Sie sie überhaupt nicht mehr sehen dürfen.« Eine der Wachen drehte sich um und schnauzte mich an: »Sie da! Ausweis!«
    Ich holte ihn aus der Tasche.
    »Und die Reiseerlaubnis?«
    Gab ich ihm ebenfalls. Er überflog die Zeilen.
    »Sie arbeiten in Sektor 4.«
    »Jawohl.«
    »Wer hat diese Genehmigung ausgestellt?«
    »Bill Bunbury, mein Vorgesetzter.«
    »Verstehe. Aber ich muss noch etwas anderes wissen.« Er richtete den Strahl seiner Taschenlampe direkt auf meine Augen. »Stillhalten.«
    Ich starrte stur geradeaus.
    »Keine Zweitsicht«, stellte er fest, womit die Fähigkeit gemeint war, Geister zu sehen. »Du musst ein Orakel sein. Na, davon habe ich ja schon eine Ewigkeit nichts mehr gehört.«
    »Ein Orakel mit Titten ist mir seit den Vierzigerjahren nicht mehr untergekommen«, bemerkte sein Kollege. »Sie werden sie lieben.«
    Sein Vorgesetzter grinste. Er hatte in jedem Auge ein Kolobom, das Zeichen für vollständige Zweitsicht.
    »Du wirst mich sehr reich machen, junge Dame«, wandte er sich wieder an mich. »Lass mich nur noch einmal deine Augen prüfen, zur Sicherheit.«
    »Ich bin kein Orakel«, erwiderte ich.
    »Natürlich nicht. Jetzt halt den Mund und mach die Guckerchen weit auf.«
    Die meisten Seher hielten mich für ein Orakel. Ein verständlicher Fehler, da meine Aura sehr ähnlich aussah – genauer gesagt wies sie dieselbe Farbe auf.
    Der Wachmann schob mit den Fingern die Lider an meinem linken Auge auseinander. Während er mit einer kleinen Lampe meine Pupillen beleuchtete und nach den nicht vorhandenen Kolobomen suchte, stürmte der andere Passagier zur Tür. Die Luft vibrierte kurz, als er einen Geist – wohl seinen Schutzengel – auf die Wachen schleuderte. Der zweite Mann kreischte, als der Engel ihn erreichte und Rührei aus seinen Sinnen machte.
    Wache Nummer eins war zu schnell. Bevor irgendeiner von uns reagieren konnte, hatte er mehrere Poltergeister herbeigerufen.
    »Keine Bewegung, Medium.«
    Linwood starrte ihn trotzig an. Er war ein kleiner Mann Anfang Vierzig, schmal aber drahtig, dessen braune Haare an den Schläfen bereits grau wurden. Ich konnte die Poltergeister nicht sehen – eigentlich konnte ich dank der Lampe vor meinem Auge fast gar nichts sehen – , aber sie schwächten mich so sehr, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte. Es waren drei. Bisher hatte ich nicht einmal erlebt, dass jemand einen Poltergeist unter Kontrolle halten konnte, geschweige denn drei. Mir brach der kalte Schweiß aus.
    Der Schutzengel wirbelte herum und wollte erneut angreifen, doch nun umkreisten die Poltergeister den Wachmann. »Wenn Sie uns widerstandslos begleiten, Medium, werden wir unsere Vorgesetzten bitten, Sie nicht zu foltern«, versprach er.
    »Nur keine Hemmungen, Gentlemen.« Linwood hob eine Hand. »Mit Engeln an meiner Seite fürchte ich nichts und niemanden.«
    »Das sagen sie alle, Mr Linwood. Sie vergessen es aber schnell wieder, wenn sie den Tower sehen.«
    Linwood schickte seinen Engel durch den Waggon. Ich konnte den Zusammenstoß nicht sehen, aber es fühlte sich an, als wären meine Sinne mit heißem Wasser verbrüht worden. Ich zwang mich, von meinem Platz aufzustehen. Die Gegenwart von drei Poltergeistern raubte mir jede Menge Energie. Linwood hatte eine große Klappe, aber ich wusste, dass er sie sehen konnte; er kämpfte damit, seinen Engel bei Kräften zu halten. Während der Beschwörer die Poltergeister unter Kontrolle hielt, rezitierte der zweite Wachmann die Threnodie, ein rituelle Totenklage, die Geister dazu zwang, vollständig zu sterben und sie in ein Reich schickte, das sich dem Zugriff der Seher entzog. Der Engel begann zu zittern. Um ihn wirklich zu bannen, müssten sie seinen vollständigen Namen wissen, aber solange einer von ihnen das Ritual aufrechterhielt, war der Engel zu schwach, um seinen Wirt zu beschützen.
    Das Blut rauschte in meinen Ohren. Gleichzeitig wurden meine Kehle eng und meine Finger taub. Wenn ich tatenlos zusah, würden sie uns beide festnehmen. Ich sah mich schon im Tower, unter der Folter, am Galgen …
    Nein, heute würde ich nicht sterben.
    Als die Poltergeister auf Linwood losgingen, verzerrte sich meine Sicht, und ich war plötzlich völlig auf die beiden Wachen konzentriert. Ihr Bewusstsein pulsierte ganz dicht neben meinem, zwei pochende Ringe aus Energie. Ich hörte, wie mein Körper auf dem Boden aufschlug.
    Eigentlich wollte ich sie nur verwirren, um mir genug Zeit für eine Flucht zu verschaffen.
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