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Teufelsleib

Titel: Teufelsleib
Autoren: Andreas Franz
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eine für Beamte, Pädagogen und Psychologen erschreckende Grausamkeit an den Tag legten. Dabei handelte es sich nicht um kleinere Keilereien oder Ladendiebstähle, sondern um Kapitalverbrechen, für die die Kinder noch nicht belangt werden konnten.
    Ein besonders erschreckender Fall betraf einen Elfjährigen, der Tränengas, einen Schlagring, ein Butterfly-Messer sowie einen Taser und einen Elektroschocker in seinem Schulranzen bei sich führte, als die Polizei den Schulranzen durchsuchte. Er behauptete, die Waffen von einem Mann gekauft zu haben, den er nicht näher kenne. Ins Visier der Fahnder war er geraten, nachdem eine Vierzehnjährige auf dem Nachhauseweg mit vorgehaltenem Messer gezwungen worden war, sich auszuziehen. Um sie mundtot zu machen, hatte der Täter mehrfach auf sie eingestochen und ihr Gesicht zerschnitten und sie anschließend neben dem Fußweg liegen gelassen. Das Mädchen überlebte, auch wenn sie fast drei Wochen im künstlichen Koma lag und ihr Gesicht erst in einigen Jahren nach zahlreichen Operationen einigermaßen wiederhergestellt sein würde. Doch ihre Seele würde diesen Nachmittag im April 2009 nie vergessen. Nachdem sie aufgewacht war, konnte sie sich an ihren Angreifer erinnern und aussagen, dass er auf dieselbe Schule ging wie sie. Warum der Junge diese brutale Tat begangen hatte, war bis heute im Dunkeln geblieben, da er schwieg, doch die Psychologen fanden nur eine Erklärung: Sie war hübsch und bei allen beliebt, während der Täter schon kurz nach seiner Einschulung von den Lehrern als schwer erziehbar eingestuft worden war. Obwohl sein IQ überdurchschnittlich hoch war, erhielt er keine entsprechende Förderung. Präpubertäre Frustration aufgrund Nichtbeachtetwerdens lautete die gutachterliche Diagnose, die so gut wie nichts über die Person aussagte. Unter präpubertärer Frustration und einer damit verbundenen Anstauung von Wut, Zorn und Hass litten mittlerweile viele Kinder. Doch bekämpft wurden meist nur die Symptome und nicht die Ursachen, und letztlich glaubte Brandt nicht an das Geschwafel einer präpubertären Frustration, sondern vermutete die Ursachen im sozialen Umfeld, doch die Mühe, das zu durchleuchten, machte sich keiner, da die chronische Unterbesetzung dies nicht zuließ.
    Der Elfjährige lebte allein mit seiner Mutter und den sechs Geschwistern in einem heruntergekommenen Sozialbau in Lauterborn – wie so viele durch Straftaten auffällig gewordene Kinder stammte er aus miserablen sozialen Verhältnissen und hatte sich einem brutalen Leben auf der Straße schon früh angepasst, weil es für ihn keinen anderen, vernünftigen Lebensraum gab und die Zukunftschancen schon früh verbaut worden waren. Ein Leben auf der Straße, das seinen Anfang meist im Elternhaus nahm. Und nicht selten wurde das Klischee des saufenden Vaters, der schlampigen Mutter und der vermüllten Wohnung erfüllt.
    In den vergangenen zwei Jahren hatten die Gewalttaten unter und von Jugendlichen überproportional zugenommen, ohne dass die Polizei oder das Jugendamt große Spielräume hatte, da in der Regel nur die Symptome, nicht aber die Ursachen bekämpft wurden. Viele Streifenpolizisten schoben Überstunden, auch Brandt und seine Kollegen hatten zahlreiche Zwölf- oder gar Vierzehnstundentage zu bewältigen. Dabei waren er und seine Kollegen vom K 11 für Kinder- und Jugendkriminalität in der Regel gar nicht zuständig, es sei denn, es handelte sich um ein Tötungsdelikt wie Mord, Totschlag oder fahrlässige Körperverletzung mit Todesfolge. Aber schon bald würde eine neue Abteilung geschaffen werden, mit einem Jugendkoordinator an der Spitze, verantwortlich für die Zusammenarbeit zwischen Schulen, Jugendeinrichtungen, Sozialämtern und Jugendämtern. Vielleicht würde es helfen, die zunehmende Gewaltbereitschaft und Kriminalität langfristig im Keim zu ersticken, sollten alle Behörden und Institutionen an einem Strang ziehen und Präventionsmaßnahmen ergreifen.
    Doch das war es nicht allein, was Brandt unzählige Überstunden und einige schlaflose Nächte verschafft hatte. Zwischen Mitte 2007 und Anfang 2009 hatte es »nur« neun Tötungsdelikte in seinem unmittelbaren Ermittlungsbereich Offenbach gegeben, die alle aufgeklärt worden waren. Sechs dieser Delikte hatten sich im häuslichen Bereich ereignet, zwei waren das traurige Resultat einer Prügelei, und Ende Dezember 2008 hatte ein Mann seinen Nebenbuhler die Treppe hinuntergestoßen. Das Opfer lag vier Wochen im Koma, bis
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