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Teufelskanzel - Kaltenbachs erster Fall

Teufelskanzel - Kaltenbachs erster Fall

Titel: Teufelskanzel - Kaltenbachs erster Fall
Autoren: Gmeiner-Verlag
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hatten ihre Konturen verloren, alles lag still. Die Frau war verschwunden. Dort, wo sie gestanden hatte, flackerte der winzige Lichtschein einer Kerze.

Freitag, 23. Februar
     
    »Der Walter, der wird 60 heut, da kommen zum Gratulieren alle Leut!«
    »Ach nein, das schreiben doch alle. Hab ich schon hundertmal gelesen. Es muss was Originelles sein. Pass auf, wie wäre es damit: ›60 werden ist nicht schwer, für den Walter aber sehr!‹«
    »Ist zu pessimistisch.«
    »Na und? 60 ist 60. Früher hat der auch ›Trau keinem über 30!‹ verkündet. Jetzt hat er selber schon das Doppelte. Lothar, sag doch auch mal was! Du bist doch unser Dichter, du kannst das doch.«
    Kaltenbach hatte bisher nur wenig beigetragen. Dabei waren die Stammtisch-Kumpels früher als gewohnt zusammengekommen, um Walter Macks Geburtstag am nächsten Wochenende vorzuplanen. Markus hatte eine der üblichen hiesigen Zeitungsannoncen vorgeschlagen, an der sie sich nun bereits seit über einer halben Stunde abmühten. Der Hinweis auf den Dichter war Kaltenbach peinlich. Bei einer ihrer vielen Stammtischrunden hatte er sich dazu hinreißen lassen, von seinen lyrischen Versuchen zu erzählen. Seither hatte er seinen Titel weg.
    »Ich muss noch was trinken, sonst wird das nichts.« Dieter gab mit seinem leeren Glas ein Zeichen zum Tresen hinüber. Markus tat es ihm nach, und im nächsten Moment waren beide wieder beschäftigt, die gut gemeinten Glückwünsche an den ersten Sechziger in ihrer Runde in Worte zu fassen. Trotz Kaltenbachs Bedenken hatten beide darauf bestanden, das Ganze in Reimform zu halten.
    »Du bist jetzt cool und nicht mehr lechzig, deine Jahre zählen 60 … «
    Die meiste Zeit hatte er nur mit halbem Ohr zugehört. Das Erlebnis auf dem Kandel beschäftigte ihn weit mehr, als er gedacht hatte. Es war weniger das schmerzende Knie, das ihn seither zu einem langsameren Gang zwang und das Markus und Dieter gleich mit entsprechenden Kommentaren bedacht hatten. Heute morgen waren wieder die Gedanken an den Toten gekommen. Er spürte, dass es da etwas gab, was ihn tief berührte. Es war wie ein fernes Rufen, das er noch nicht entziffern konnte. Und da war diese Frau.
    »Eine Schorle sauer, ein Bitter Lemon.« Evangelos, der bezopfte Kellner, stellte die gewünschten Getränke vor den beiden auf, nickte vielsagend mit dem Kopf in ihre Richtung und grinste Kaltenbach zu, ehe er sich nach hinten verzog.
    »Es ist verflixt kompliziert, warum reimt sich denn nichts auf 60?«
    »Dann nehmen wir eben ›60 Jahre‹! Pass auf: ›Der Walter wird heut 60 Jahre, und nicht mehr lange, dann liegt er auf der Bahre!‹«
    Prustendes Gelächter.
    Je mehr sich die beiden in ihre Knittelverse à la Hans Sachs hineinsteigerten, desto weniger Lust hatte Kaltenbach, sich zu beteiligen. Vielleicht hatten sie ja recht. Es gab viele Rituale der Milderung, mit denen die Menschen versuchten, das Älterwerden und die Unabänderlichkeit des Todes zu kompensieren, sei es durch die jährliche Erinnerung an die Geburt.
    Er nippte an seinem Gutedel. Das Leben war ohne Veränderung nicht denkbar, obwohl es Zeiten gab, in denen er sich sehnlichst gewünscht hatte, dass es niemals anders werden möge. Er drehte sein Glas zwischen den Fingern und betrachtete versonnen die Wandmalereien in der gegenüberliegenden Essnische des griechischen Lokals. Eine blutrote Sonne erhob sich über einem türkisfarbenen Meer und beschien ein weiß gekalktes Häuschen mit flachem Dach, das aus einem sattgrünen Zypressenhain hervorlugte. Das pralle Leben, eine kitschige Reminiszenz an das Land der immer währenden Jugend.
    Et in arcadia ego. Was wäre gewesen, wenn er der unendlich verliebte Jüngling geblieben wäre? Die ewigen Freuden – wenn es sie gäbe, wäre kein Platz für anderes. Alles wäre endgültig. Fertig.
    ›Wer sein Ziel erreicht, ist tot‹, hatte einst ein einfacher schottischer Fischer gesagt, als sie am Abend in einem Pub in der Nähe von Edinburgh zusammen ein Bier getrunken hatten. Kaltenbach hatte es nicht verstanden, damals, während der ausgedehnten Reise durch Schottland mit all seinen kühnen Plänen im Rucksack. Er würde einen tollen Beruf haben, der ihn forderte und befriedigte, er würde genug Geld verdienen, um sich all seine Wünsche erlauben zu können. Und er würde mit der Frau an seiner Seite, die er erst wenige Monate zuvor kennengelernt hatte, all dies erleben. Sie würden eine gemeinsame Zukunft bauen, und alles würde immer schön sein.
    »Wer
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