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Teufelsfrucht

Teufelsfrucht

Titel: Teufelsfrucht
Autoren: Tom Hillenbrand
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einem Ein-Sterne-Restaurant, dessen Chef später sogar einen zweiten Stern ergattert hatte. Deshalb kannte er die Kriterien, die französische Gastroführer anlegten, gut genug, um zu wissen, dass sein Restaurant eigentlich nicht in deren Raster fiel.
    Die Befähigung, etwas Köstliches zu kochen, war eine Sache. Aber Sternekoch zu werden war nicht nur eine Frage des Talents. Es setzte vor allem die Fähigkeit voraus, allabendlich ein außergewöhnliches Brimborium zu veranstalten. Edle Einrichtung, teures Geschirr und ein Weinkeller von der Größe der Luxemburger Kasematten waren unumgänglich. Vor dem Essen galt es ausgefallene amuse-gueules zu servieren, zum Kaffee filigrane petits fours. All das war unabdingbar, wenn man einen Gabin-Stern begehrte. Für die notwendigerweise komplexen, vielgängigen Menüs brauchte ein Sterneaspirant zudem eine Armada von sous-chefs, sauciers, pâtissiers und weiteren Postenköchen. Ferner eiserne Disziplin, Organisationstalent und eine autokratische Persönlichkeitsstruktur. Kieffer musste an seinen Lehrmeister denken, den Renard-Chef Paul Boudier. Der Alte war ein fürchterlicher Tyrann. Seinen Mitarbeitern hatte der Franzose immer wieder eingebläut, was er von ihnen erwartete: »Bedingungslos gehorchen sollt ihr, präzise meine Rezepturen befolgen und euch eure eigenen kulinarischen Ideen in den Arsch stecken.«
    Das war nichts für Kieffer. Sterneköche konnten sich nicht den halben Abend mit einer Flasche Riesling zu ihren Gästen setzen. Bodenständiges wie Bouneschlupp oder Gromperekichelcher war auch nicht drin. Da kochte Kieffer lieber so, wie er eben kochte, in seinem kleinen Lokal mit einem Dutzend Gerichte auf der Karte, einer Handvoll Mitarbeitern, ganz ohne Sterne oder Häubchen. Aber warum war dieser Gastrokritiker dann hier? Was hatte der Mann bloß in seinem Restaurant verloren?
    »Paschtéit fir Dësch véier«, rief Claudine und riss Kieffer aus seinen Gedanken. Er nahm den Hasen aus dem Ofen und musterte den Teller, den Claudine an den Pass, den Abnahmeplatz, gestellt hatte. Zwei dünne Scheiben Rieslingspastete in Teigkruste lagen darauf, nebst einer Salatgarnitur und einem ordentlichen Klecks Soße aus pürierten Maronen und Honig. Die Pastete war eine specialité de la maison. Kieffer war ziemlich stolz auf das Rezept, das er selbst immer wieder verfeinert hatte. Er ging zu Claudines Posten, tauchte einen kleinen Löffel in die Maronensoße und probierte noch einmal. Dann nickte er zufrieden und stellte den Teller in den Aufzug.
    Gut zehn Minuten später klingelte das Küchentelefon.
    »Xavier, er sagt, er möchte ein Päuschen machen, kannst du den Hauptgang schieben?«
    »Geht. Mochte er die Pastete?«
    »Er hat beide Scheiben aufgegessen und die ganze Soße aufgetunkt.«
    Das musste nichts heißen. Soweit Kieffer wusste, waren Gabin-Tester gehalten, die Gänge nicht nur zu probieren, sondern alles komplett aufzuessen. »Was macht er jetzt?«
    »Er steht vor dem Lokal, neben seinem Auto, und telefoniert.«
    Kieffer stellte den Hasen warm. Er verschob das Andicken der Soße und begann stattdessen automatisch, seinen Posten zu kontrollieren. Zwar erwartete er an diesem Abend kaum Kundschaft, doch das war kein Grund, bei der Organisation seines Arbeitsplatzes nachlässig zu werden.
    Wie jeder Profikoch war Kieffer äußerst eigen, was seine mise en place anging. »Es ist dein Werkzeugkasten, es ist das A und O«, hatte ihn Boudier einmal vor versammelter Mannschaft heruntergeputzt, als Kieffers Posten nicht in Ordnung gewesen war. »Wenn er durcheinander ist, kochst du durcheinander.« Boudier hatte natürlich recht gehabt; die mise en place war die Voraussetzung für fast alles andere. Ein hervorragendes médaillon de veau et foie gras au raisin – eines von Kieffers Lieblingsgerichten – zuzubereiten, verlangte neben guten Zutaten nur ein wenig Geduld und eine Prise Talent. 60 Portionen davon binnen einer Stunde zu servieren, war ohne perfekte Vorbereitung hingegen unmöglich. Wenn man nicht genau wusste, wo sich welche der benötigten Zutaten befanden, war man in einer Restaurantküche verloren. Spätestens nach der dritten oder vierten Sechsertisch-Bestellung ging dann alles den Bach runter, völlig egal, wie begnadet ein Koch sein mochte.
    Das Gleiche galt für Köche, die in der Vorbereitung schluderten und gängige Zutaten nicht in ausreichender Menge vorhielten. Wenn die Bestellungen auf ein Team einprasselten wie Granaten, dann blieb keine Zeit,
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