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Terry - Geschichten aus dem Leichenhaus

Terry - Geschichten aus dem Leichenhaus

Titel: Terry - Geschichten aus dem Leichenhaus
Autoren: Stephan Peters
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unter. Die totenkopfartige Silhouette des Schrottplatzes war ebenso verschwunden, mit Ausnahme des zahnlosen Mundes, der Sucker angrinste. Von da an beschloss Ralf, seine Gefühle für Schrott und Müll gehörig zu überdenken. Gegen drei Uhr morgens pochte es an seiner Tür. Eigentlich war es mehr das Schlagen einer Schienenschwelle gegen Holz, neben dem das Namensschild »Sucker« hing. Er schreckte hoch und sah acht riesige, rote Lampions in sein Schlafzimmer schweben. Aber die Lampions waren große Augen, und die Augen gehörten riesigen Ratten, so fett, dass sie kaum durch die Türe passten. Sie packten ihn an seinen Trainingsanzug, den er seit Jahren als Schlafanzug benutzte und schleiften ihn zum Schrottplatz. Sucker versuchte gar nicht erst sich zu wehren, um für seine Schreie mehr Kraft zu haben. Dem Maul des Totenkopfes waren Zähne aus verschrotteten Autos gewachsen, in das die Ratten Sucker hinein schoben. Zwei hielten ihn an den Beinen fest, zwei andere mit den Zähnen an den Armen. Ralf stellte fest, dass man irgendwann nicht mehr schreien kann. Vor allem nicht, als sich das Maul langsam schloss, ihn genau in der Mitte seines Körpers zerteilte und Ralf die beiden Hamburger auskotzte, die er am Abend zu sich nahm. Die Hamburger vermischten sich mit seinem Blut zu einem nekrophilien  Dressing.
    Als Ralf am nächsten Morgen am Gartenzaun stand, den Alptraum Revue passieren ließ, beschloss er, sechs Tannenbäume zu kaufen, um die Aussicht auf die Müllhalde zu versperren. Aber als Bettina einzog, vertrieb sie ihm damit Alpträume und eingefahrene Gewohnheiten.
    Er half ihr, die Möbel aufzustellen und staunte über ihren auserlesenen Geschmack, über zahllose Bücher und kostbare Vasen. Er selbst besaß nur ein paar Dutzend Bücher in seinem Schrank aus nachgemachter Eiche, in dem die Hausbar und die alte Stereoanlage integriert waren, daneben ein paar Zinnteller mit Jagdmotiven. Die Bücher hatte man ihm geschenkt, meistens von Kollegen an seinem Geburtstag, die »irgendwas« gekauft hatten, und Sucker las sie nie.
    „Darf ich Sie zum Kaffee einladen?“ sagte Bettina zu ihm, als sie mit allem fertig waren. Er war perplex und beglückt zugleich. Ralf hatte das Radio laut angestellt, in dem Karel Gott Der letzte Bolero sang. sie hörte so etwas ja nie. Er hatte sich dabei ertappt, bei ihr an der Wand zu lauschen, um eventuelle  Verehrer zu erwischen, doch zu seiner Freude schien sie keine zu haben. Bettina hörte Klaviermusik, die sehr „lang“ war. Und sehr ernst. Aber nicht nur Musik klang aus ihrer Wohnung, sondern auch seltsame Düfte, die mit Parfum nicht das Geringste zu tun hatten. Das alles verwirrte ihn sehr, warf ihn aus der Bahn und verunsicherte ihn. Er fühlte sich in die Kindheit zurückversetzt, als er vor der Wohnzimmertür zu Weihnachten stand, mit angehaltenem Atem lauschte um herauszufinden, was ihn wohl erwartete. Und genauso fühlte er sich jetzt. Als Bettina die Einladung aussprach, trug sie schwarze Cordhosen und einen blauen, flauschigen Pulli. Und auf diesem ein halbes Dutzend seltsamer Ketten und Medaillons, auf die er lange starrte.
    „Ist das ein Davidstern oder so was?“ fragte er.
    Sie nahm den Anhänger verdutzt in die Hand, lächelte wieder und klärte ihn auf, dass es wohl eine Art Pentagramm sei. Genaueres wisse sie aber selber nicht. Doch er hörte ohnehin nicht mehr zu; sein Gegenüber reduzierte sich wieder auf Schwarz und Blau, seine Augen schlossen sich und Ralf musste sich am Türrahmen festhalten.
    Natürlich nahm er die Einladung an. Wann hatte ihn das letzte Mal ein Mädchen eingeladen? Lange her.
    Aber er müsse sich noch rasch umziehen, meinte Sucker: Diese alten Klamotten. Doch sie sagte: „Oh nein, nur nicht! Sie sind schon in Ordnung so!“
    Er sei schon in Ordnung! Das war der Punkt! Nicht nur die Einladung in ihre Wohnung, in der sie ihm Kuchen anbot, extra für ihn gemacht! Und nicht etwa ein Stück, das von ihrem übrig war.
    Der Punkt war auch nicht das Buch über moderne Hexen, das schräg vor ihm halb aufgeschlagen war, von einer Amerikanerin namens Starhawk verfasst war und Raum für neue Fantasien bot. Aber das wäre fast der Punkt gewesen: Bettina saß neben Ralf, der etwas zitterte, und sie tat etwas, was für ihn erregender war als all seine nächtlichen Vorstellungen, die er seit ihrem Einzug hatte.
    Bettina Kress sagte: „Nehmen Sie doch noch ein Stück Kuchen“, und dabei berührte ihre Hand sanft seine Schulter. Und da konnte er
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