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Terry - Geschichten aus dem Leichenhaus

Terry - Geschichten aus dem Leichenhaus

Titel: Terry - Geschichten aus dem Leichenhaus
Autoren: Stephan Peters
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nichts mehr essen, sondern nur noch fühlen, fühlen, fühlen.
    Nein. Der Punkt war: Er sei schon in Ordnung! Als er in seine eigene schäbige Behausung ging, hockte er lange auf dem Küchenstuhl, um zu überlegen, wann das jemand mal zu ihm gesagt hatte. Er sei schon in Ordnung. Er musste es immer zu anderen sagen, um nicht gerügt oder angefahren zu werden. Oder um die Stimmung zu erhalten.
    Ralf Sucker fuhr mit dem »Mitternachtsexpress der Erinnerungen« zurück in seine sogenannte Kindheit, in der es Vater einmal zu ihm sagte. Ralf hatte ihn dabei erwischt, als er es mit einem seiner Flittchen in der Küche trieb, und Mami gegenüber den Mund gehalten.
    Aber nicht, weil er sie liebte, sondern mehr wegen des entsetzlichen Geschmacks in seinem Mund, denn im anderen Fall hätte ihn Vater – wie so oft – für ein paar Minuten kopfüber in die Kloschüssel gesteckt.
    So hatte Ralf lieber geschwiegen und bekam anstelle der Kloschüssel einen Riegel Maoam geschenkt.
    Und Vater sagte, als er eine Zigarre namens »Schwarze Weisheit« rauchte: „Du bist schon in Ordnung!“
     
    Jede andere Frau hätte er zu verführen versucht, wenn nötig, gegen ihren Willen. Aber eine Frau, die ihn ausschließlich durch Farben, Gerüchen und Gestik davon abhielt, war gar keine Frau! Eine Frau, die es zustande gebracht hatte, ihn von seiner Skatrunde fernzuhalten, ohne dass es ihm schwerfiel, ebenso, seinen Posten im Gemeinderat aufzugeben, war eine Göttin! Aber Göttinnen kümmern sich nicht um solche Banalitäten wie Skat und Gemeinde. Dazu kam, dass die lästige Rattenplage aufhörte, und der seit drei Jahren scheinbar tote Holunderstrauch begann wieder zu blühen.
    Nein. So eine Frau war auch keine Göttin. Bettina war eine Wicca. Eine Hexe! Eine kleine Hexe, die nur für ihn zauberte!
    Über Wiccas las Ralf in einer alten Illustrierten, als er im Wartezimmer eines Arztes saß. Wiccas, so las er erstaunt, kämpfen gegen Männerhierarchien, vor allem in Kirche und Politik. Moderne Hexen, die sich auch mit Kräutern und Beschwörungen auskennen.
    Ja, und war Ralf Sucker nicht auch ein Vertreter der modernen Inquisition, die sich heute allerdings Stammtisch und Gemeinderat nannte? Waren sie nicht alle schon hinter Bettina her? Hinter seiner kleinen, lieblichen Wicca? Hatte man nicht schon den Scheiterhaufen errichtet?
    Von da an begann Ralf Sucker Bettina zu bewachen.
    Sie schien keiner geregelten Arbeit nachzugehen. Wahrscheinlich, so vermutete er, weil sie mit ihrer Magie ohnehin alles erreichen konnte. Er stellte seine spärlichen sozialen Kontakte völlig ein. Ging kaum aus dem Haus und wartete lieber stundenlang, ob er sie „rein zufällig“ im Flur traf. Auch auf seine Radiomusik verzichtete er; war sowieso spießig. Ralf besorgte sich stattdessen kiloweise Bücher, die er zwar nicht verstand, aber hoffte, mal mit ihr ins Gespräch zu kommen, um auf sein umfassendes Wissen aufmerksam zu machen.
    Doch die Begegnungen waren selten, aber die einsamen Stunden über nichtssagenden Büchern unendlich lang. Einmal knallte Ralf ein
    Werk über Soziologie gegen die Wand, weil die Buchstaben da drinnen wie flüssiger Karamel verschwammen.
    Danach fühlte er sich seit langen für ein paar Minuten wohl. Er kam sich wie ein 200 PS Motor vor, der immer nur im ersten Gang fuhr.
    Sein Internist meinte, Ralf habe – und so verstand er es – vegetative Diollosophie und riet ihm zur Kur. Zur Kur! Man wollte ihn von seiner kleinen Hexe trennen! Wahrscheinlich, um sie zu töten. Aber Ralf würde sie weiterhin  bewachen, denn er war ja in Ordnung. Und wenn man in Ordnung ist, ist man ein interessanter Mann, ein kluger Mann!
    Er beschloss, sie ebenfalls einzuladen. Das ewige Warten auf sie machte ihn krank. Bettina sagte nicht zu, Bettina sagte auch nicht ab. Sie sagte: „Ja. Warum nicht? Irgendwann einmal ...“
    Er erinnerte sich schwach daran, in irgendeinem Wochenmagazin gelesen zu haben, dass ausweichende Antworten bei Frauen in Wirklichkeit inbrünstiges Verlangen bedeuten. Und drücken sich Hexen nicht alle geheimnisvoll aus? So geheimnisvoll wie das Pentagramm um ihren Hals, das Wunder des blühenden Holunders, das Ende der Rattenplage? Ja! Sie liebte ihn! Er war ja auch in Ordnung. Er würde ihr Geliebter werden, ihr Mann. Ihr Zauberlehrling!
    Ralf weinte die ganze Nacht vor Glück. Draußen nagten derweil zwei Ratten am Holunder.
     
    Das Ende eines Menschen kann eine Arztpraxis sein, oder eine zu oft besuchte Kneipe. Für Ralf
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