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Terra Mater

Terra Mater

Titel: Terra Mater
Autoren: P Bordage
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fielen aus den Schleusenkammern der noch beleuchteten Behausungen. Jek hatte sich immer gefragt, wie die Quarantäner den Tag von der Nacht unterscheiden konnten. Jetzt wusste er es: Wenn die Nacht hereinbrach, schalteten sie einfach das Licht in den Tunneln aus.
    An der sechsten Abzweigung betrat er einen schmalen, gewundenen Gang, in dem ein ganz besonderer Geruch herrschte – nicht der modrige Gestank, der für das Ghetto charakteristisch war –, ein Geruch, der ihm sagte, dass es nicht mehr weit sein konnte. Kurz darauf kam er in eine große Grotte, eine Plumengplantage. Die aromatische Wurzel des Plumengs war das Basisprodukt, das die Quarantäner für fast alle Gewürze, Pomaden und Salben verwendeten.
    Ein Lichtstrom ergoss sich aus der Wohnhöhle des alten Artrarak und beleuchtete ein Stück schwarze Erde, streichelte die braunen, geäderten Blätter der Plumengs und wanderte über eine zerklüftete Wand, ehe er sich in der Tiefe der Grotte verlor. In der Stille war nur ein leises Plätschern zu hören. Jek kam langsam wieder zu Atem und wischte sich mit seinem Jackenärmel Schweißtropfen von der Stirn.
    »Du hast dich also entschlossen!«, hörte er plötzlich eine tiefe und melodiöse Stimme.
    Jek schrak zusammen. Der alte Artrarak tauchte aus der Dunkelheit auf und ging lächelnd zu seinem jungen Freund.
    Das Schicksal schien sich bei diesem Quarantäner einen besonders üblen Spaß erlaubt zu haben. Nicht nur, dass er
einen fast unaussprechbaren Namen hatte, sein hässlicher Kopf widersprach jeglicher Ästhetik. Die Augen befanden sich nicht unter der Stirn, sondern rechts und links neben der schnauzenförmigen Nase. Sie lagen so tief in ihren Höhlen, dass man sie zuerst für ein weiteres Paar Nasenlöcher hielt, ehe man ihr Funkeln entdeckte. Der Mund ging bis zu den Ohren, die an den Schläfen saßen. Auf dem verbeulten Schädel spross spärliches weißes Haar. Arme und Beine waren so dünn und lang, dass der Mann wie eine Spinne wirkte. Und diese Gestalt war in Lumpen gehüllt, grob zusammengenähte schmutzige Stofffetzen, die man kaum als Kleidung bezeichnen konnte. Die ganze Hässlichkeit verschwand jedoch wie durch einen Zauber, wenn Artrarak sprach. Die Schönheit seines Wesens drückte sich vollkommen in seiner Stimme aus, einer warmen, tiefen, beschwörenden Stimme. Sie perlte aus seinem Mund wie duftendes Wasser aus einer Quelle, sie floss wie ein stetiger magischer Fluss dahin, in den Jek immer wieder mit Entzücken tauchte. Die kleinen Anjorianer, die ihn besuchten, wussten nicht wie alt er war, aber sie hatten ihn spontan den »alten Artrarak« genannt. Unter den anderen Quarantänern galt er als Außenseiter, ein Schwätzer, der seine eigenen Legenden zu glauben schien.
    Jetzt sah Artrarak besorgt aus. Seine knochigen Finger gruben sich schmerzhaft in Jeks Schulter. »Du bist ausgerissen, nicht wahr?«
    Jek nickte.
    »Sehr schön, das macht mir Mut! Wenigstens einer, der meine Geschichten glaubt.«
    »Meine Eltern wollten mich morgen früh in eine dieser heiligen Propagandaschulen schicken …«, sagte Jek, den Tränen nahe.

    »Oh, oh! Das ist also ein Notfall. Komm in meine Höhle. Dort können wir besser reden.«
    Jek kam ein hässlicher Gedanke: Kann ich dem alten Artrarak wirklich Glauben schenken? Und wenn seine schönen Geschichten nun nichts als Phantastereien eines kranken Hirns sind? P’a At-Skin hat häufig gesagt, dass die Quarantäner oft unter Schüben akuter Schizophrenie litten. Dann glauben sie Dinge zu sehen und zu hören, die überhaupt nicht existieren. Vielleicht gab es diese legendären Gestalten; die schöne Syracuserin, Naïa Phykit, den Oranger Sri Lumpa und den Mahdi Shari von den Hymlyas überhaupt nicht? Plötzlich kamen Jek diese ganzen Geschichten ziemlich unwahrscheinlich vor, dass jemand den Fängen einer Riesenechse auf dem Planeten Zwei-Jahreszeiten entkommt, die mentalen Inquisitoren an der Nase herumführt und allein durch die Kraft seiner Gedanken reist …
    Artrarak ging mit dem Jungen in seine Höhle und bedeutete ihm, sich auf einen der Steinhocker zu setzen. Die Möbel in seiner Behausung beschränkten sich auf das Nötigste: noch zwei weitere Hocker, ein Tisch aus Lehm, ein paar Regale, die er aus dem Fels herausgearbeitet hatte, und eine Matratze aus Plumeng auf dem Boden. Die große, phonetisch steuerbare Lichtkugel war sein einziges Zugeständnis an die Moderne. Doch ganz gleich zu welcher Jahreszeit, ob im Tiefen Winter, Winter oder
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