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Tentakelwacht

Tentakelwacht

Titel: Tentakelwacht
Autoren: Dirk van den Boom
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ablenkten, alles zu tun, um den eigenen Arsch zu retten. Und dass die Militärdiktatur, so verdorben, korrupt und gewaltbereit sie auch war, derzeit alles daransetzte, die Erde zu verteidigen, konnte Johanna aus eigener Anschauung bestätigen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Firma Hunderttausende von Notrationen produzierte, weil sie einen geheimen Deal mit den Tentakeln hatte, die wahnsinnig scharf auf chemisch konservierte Fertignahrung waren, war doch als relativ gering einzustufen.
    Als sie sich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, der ihr über die Schulter gucken würde, loggte sie sich in den Teil ihrer täglichen Arbeit ein, für den sie nur eine immaterielle Bezahlung durch Anerkennung all jener erhielt, die die von ihr bereitgestellten Ressourcen nutzten. Sie scrollte durch eine längere Liste von Statusmeldungen, Fortschrittsberichten, launigen Bemerkungen sowie tiefsinnigen Betrachtungen zum Untergang der Welt, bis sie auf eine Nachricht stieß, die von jemandem stammte, der in letzter Zeit sehr ruhig gewesen war.
    »Slap, mein alter Freund«, murmelte Johanna vor sich hin und rief die Nachricht auf. Sie war nicht lang und offenbar in großer Eile geschrieben, aber bereits nach den ersten beiden Absätzen wurde Johanna klar, dass die dürren, sachlichen Worte eine größere Sprengkraft enthielten als alles, was sie jemals zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Ihre Augen weiteten sich unmerklich, als sie am Ende der Nachricht angekommen war.
    Dann las sie sie ein zweites und ein drittes Mal.
    Slap war niemand, der als unzuverlässig oder allzu gesprächig galt.
    Er war relativ jung, ja, aber das waren sie alle, oder zumindest die meisten. Er war begabt, ein Autodidakt wie so viele von ihnen, und er genoss ein gewisses Ansehen in der Community. Er tat, was er ankündigte, und wenn er half, half er richtig. Kein Großmaul. Zuletzt war bekannt geworden, dass er eingezogen worden war, auch ein Schicksal, mit dem er nicht alleine stand. Wie jeder gute Hacker hatte er Möglichkeiten gefunden, sich dennoch hin und wieder zu melden, das hier aber war … das hier war etwas Besonderes.
    Johanna fand, dass sie Slap glauben musste.
    Und sie befürchtete, dass diese brisante Nachricht im Wust aller anderen Meldungen unterzugehen drohte.
    Zum Glück verfügte sie als eine der illegal operierenden Administratorinnen über die Möglichkeit, das zu verhindern. Alle wie sie, die Rechenkapazität für das Netzwerk zur Verfügung stellten, hatten die Befugnis, eine Art systemweiten Alarm auszulösen. Das war in der Vergangenheit nur ein oder zwei Mal vorgekommen, zumindest, soweit Johanna sich zurückerinnern konnte. Auslöser waren normalerweise Ermittlungen des Staates oder großer Konzerne, die den Machenschaften der Community gefährlich nahe auf den Pelz gerückt waren. Johanna selbst hatte diesen Alarm niemals auslösen müssen, aber auch sie besaß, genauso wie die drei oder vier Dutzend anderen Untergrundadmins, einen virtuellen »roten Knopf«, der eine Nachricht allerhöchster Priorität an alle Nutzer des Netzwerkes senden würde, eine Nachricht, die niemand ignorieren würde.
    Stellte sich Slaps Meldung als Hoax heraus, wäre es aus mit Johannas Reputation. Niemand würde sie jemals wieder ernst nehmen, und die immaterielle Entlohnung durch den ihr erwiesenen professionellen Respekt würde fast unmittelbar versiegen.
    Also zögerte sie noch einmal, wog ab, dachte nach.
    Dann aber schalt sie sich eine Närrin.
    In Kürze würde ihrer aller Leben enden, zumindest das der meisten, wenn sie Slaps Nachricht richtig verstanden hatte. Einige hatten eine Chance auf Rettung. Johanna machte sich keine Illusionen darüber, ob sie dazugehören würde. Aber die Frage, ob die Tentakel ihr großen Respekt entgegenbringen würden, nachdem sie ihre Schädeldecke geöffnet und einen Setzling durch die Hirnschale gerammt hatten, war nichts, was Johanna wirklich umtrieb.
    Also tat sie, was zu tun war.
    Sie schrieb einige wenige Zeilen. Es war nicht ihre Absicht, vom Inhalt abzulenken und sich selbst in den Vordergrund zu stellen. Sie schrieb einige Worte über Slap, vor allem für jene, die ihn nicht so gut kannten und daher mehr Misstrauen zeigen würden.
    Dann drückte sie den roten Knopf und sah, wie die Nachricht als systemweiter Alarm verschickt wurde. Bei jedem, der online war, würde sie in diesem Moment, verbunden mit hektischen, roten Lichteffekten, auf dem Schirm erscheinen, verbunden mit der Bitte, sie überall
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