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Tentakelwacht

Tentakelwacht

Titel: Tentakelwacht
Autoren: Dirk van den Boom
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begegnete.
    Das machte sie alle gleich. Johanna hatte gerade ihre zweite Acht-Stunden-Schicht begonnen, die Arbeit für nur eine halbe Stunde unterbrechen dürfen, eine Kleinigkeit gegessen, ein lahmes, inhaltlosen Gespräch mit Kollegen geführt. Sie hatten alle kein Privatleben mehr, abgesehen von dem bisschen, das sich hier während der Arbeit abspielte, und daran hatten alle jede Freude verloren. Johanna wusste von verzweifeltem Sex in Lagerräumen und von Chefs, die sich endlich an ihre Sekretärinnen rantrauten, da ihnen die Meinung ihrer Ehefrauen nunmehr endgültig völlig egal war.
    Johanna hielt sich aus alledem raus, weniger, weil sie verzweifeltem Sex besonders kritisch oder gar ablehnend gegenüberstand, sondern weil sie von wenig attraktivem Äußeren war. Ihre plumpe Gestalt passte lediglich mit Mühe in die normierten Bürostühle, ihre dicken Finger glitten zwar schnell, aber nicht immer hundertprozentig treffsicher über die Tastatur, und ihr fettiges Haar fiel ihr immer wieder wirr ins Gesicht. So hatte sie schon immer ausgesehen, und wo es sie früher belastet hatte, war es ihr seit vielen Jahren herzlich egal. Sie galt als blasse, als unauffällige Kollegin, hatte ein Talent und ein gutes Verständnis für Softwareprobleme und Stolpersteine in der Codeentwicklung, und wurde mehr oder weniger als Inventar betrachtet, von Kollegen wie Vorgesetzten gleichermaßen. Sie war nicht einmal ein geeignetes Objekt von Mobbing-Attacken, denn kaum hatte man sie erblickt, hatte man sie auch schon wieder vergessen. Sie funktionierte.
    Ihre Kollegen ahnten nicht einmal, wie gut sie funktionierte.
    Mit der Zeit hatte sie sich im Großraumbüro das Recht erarbeitet, sich ihren Arbeitsplatz aussuchen und individuell gestalten zu dürfen. So war sie ganz an den Rand gewandert, hinten, neben den Lagerräumen mit dem Toilettenpapier, dem Putzzeug und den kaputten Stühlen. So wusste sie, was verzweifelter Sex war, und gleichzeitig wusste niemand, was und wie sie arbeitete. Ihren Vorgesetzten war das auch weitgehend egal, solange sie die Deadlines ihrer Projekte einhielt, und in dem Punkt war sie hundertprozentig zuverlässig.
    Johanna war schnell. Sehr viel schneller, als alle auch nur ahnten. Die Arbeit bot keine besonderen Herausforderungen, die Projekte hatte sie in der Hälfte der Zeit abgearbeitet, die ihr vorgegeben wurde. Sie gab sie aber trotzdem nur pünktlich ab, niemals zu früh. Denn die dadurch gewonnene Zeit nutzte sie für sich selbst.
    Johanna blickte auf, sah sich um. Sie hatte den Schreibtisch in ihrem Kubikel so hingestellt, dass jemand, der den schmalen Zugang betrat, nicht erkennen konnte, was sich auf ihrem Bildschirm abspielte. Und das war auch gut so, denn Johanna benutzte das Firmennetz schon seit vielen Jahren und völlig unerkannt für ihre eigenen Zwecke.
    Nichts wirklich Schlimmes, zumindest nach Johannas Maßstäben, obgleich die bloße Nutzung der TechnoPlex-Hardware und -Software für andere als angeordnete Zwecke bereits ein Kündigungsgrund an sich war.
    Diese Überlegungen hatten Johanna aber nie abgehalten. Bei rechtem Licht betrachtet, hatte sie in den vergangenen zehn Jahren eine kriminelle Energie an den Tag gelegt, die man ihr gar nicht zugetraut hätte.
    Zentrale Aktivität war ihre Mitgliedschaft in diversen Hacker-Netzen, die sich über virtuelle Plattformen organisierten, aufgesetzt auf ahnungslosen Firmenrechnern und verstärkt durch KIs, die der Ansicht waren, etwas ganz anderes zu tun. Johanna selbst war eine der Administratorinnen dieser Netzwerke, hatte in jahrelanger Kleinarbeit die technischen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass TechnoPlex, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung zu haben, einen sehr kleinen Teil seiner beachtlichen Rechnerleistung für nicht ganz legale Zwecke bereitstellte – das heißt, für nicht ganz legale Zwecke, die nicht vorher vor der Geschäftsleitung abgesegnet worden waren.
    Auch da machte sich Johanna absolut keine Illusionen.
    Die freie Zeit, die sie durch ihre schnelle und zuverlässige Arbeit gewann, nutzte sie zur Wartung sowie zur Beteiligung an Hackerprojekten, oft genug relativ harmlosen Versuchen, Informationen zu erlangen, die öffentlich nicht zugänglich waren, und dann jene, die als besonders skandalös galten, in der breiten virtuellen Präsenz zu verteilen. Das hatte seit dem Beginn des neuen Tentakelangriffes nachgelassen. Es wurde allgemein als wenig sinnvoll erachtet, Skandale auszulösen, die letztlich nur davon
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