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Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Titel: Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras
Autoren: Wolfgang Koeppen
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Treppen des Amerikahauses, die breiten Marmorstufen des Führerbaus, war er in die Nacht, in die Fremde und in das Abenteuer entwischt. Ein Dichter altert nicht. Sein Herz schlägt jung. Er war in die Gassen gegangen. Er ging ohne Plan, seiner Nase nach, seine große Nase führte ihn. Er fand die finsteren Gassen um den Bahnhof, die Anlagen um den Justizpalast, die Gassen der Altstadt, das Revier von Oscar Wildes goldenen Nattern. Edwin war in dieser Stunde Sokrates und Alkibiades. Er wäre gern Sokrates in Alkibiades' Leib gewesen, aber er war Alkibiades in Sokrates’ Körper, wenn auch aufrecht und wohlgekleidet. Sie erwarteten ihn. Bene, Kare, Schorschi und Sepp erwarteten ihn. Sie hatten schon lange auf ihn gewartet. Sie sahen nicht Sokrates und Alkibiades. Sie sahen einen alten Freier, einen alten Deppen, eine alte wohlhabende Tante. Sie wußten nicht, daß sie schön waren. Sie ahnten nicht, daß es ein Verfallensein an die Schönheit gibt und daß der Liebhaber im Geliebten, im Körper eines rüden Burschen, den Abglanz des ewig Schönen, das Unsterbliche lieben kann, die Seele, wie Plato sie anbetete. Bene, Schorschi, Kare und Sepp hatten auch Platen nicht gelesen wer-die-Schönheit-angeschaut-mit-Augen-ist-dem- Tode-schon-anheimgegeben. Sie sahen einen eleganten reichen Freier, ein komisches Geschäft, das ihnen nicht einmal ganz verständlich, das aber, wie sie aus Erfahrung wußten, mitunter einträglich war. Edwin sah ihre Gesichter. Er dachte ›sie sind stolz und schön‹. Er übersah nicht ihre Fäuste, ihre großen und grausamenFäuste, aber hielt sich an ihre Gesichter, stolz und schön.
    Es war ein Fest ohne Stolz und Schönheit. War es ein Fest? Was feierten sie? Feierten sie das Nichts? Sie sagten: »Wir feiern!« Aber sie ließen nur ihre trüben Sinne laufen. Sie tranken Champagner, und sie ließen die Trostlosigkeit leben, sie füllten die Lebensleere mit Geräuschen, sie jagten die Angst mit Mitternachtsmusik und schrillem Lachen. Es war ein scheußliches Fest. Es kam keine Stimmung auf; nicht einmal die Stimmung der Lust kam auf. Alexander schlief. Er schlief mit offenem Mund. Auch Alfredo schlief, ein spitzmäuliges, enttäuschtes, schlecht träumendes Kätzchen. Messalina tanzte mit Jack. Jack unterlag widerwillig in einem Freistilringen. Flanschen sprach mit Emilia von Geschäften. Er wollte wissen, ob der Besatzungsdollar eingezogen würde. Er wollte sich Bruchgold kaufen. Er wußte, daß Emilia etwas vom Handel verstand. Die kleine Rechenmaschine Hänschen-klein schnurrte. Emilia trank. Sie trank Champagner und scharfen brennenden Gin, sie trank hochprozentigen Cognac und schwere Pfälzer Spätlesen. Sie füllte sich voll. Sie trank alles durcheinander. Sie baute den Mister Hyde auf. Sie baute ihn böse und systematisch auf. Sie trank, um Messalina zu schädigen. Sie tanzte mit niemand. Sie ließ sich von niemand berühren. Sie war ein keuscher Süffel. Sie füllte hinein, was hineinging. Was kümmerte sie die Gesellschaft? Sie war hergekommen, um zu trinken. Sie lebte für sich. Sie war die Kommerzienratserbin. Das war genug. Man hatte die Erbin bestohlen; die Menschen hatten das Erbe angetastet. Das genügte ihr. Das genügte ihr von den Menschen. Mehr brauchte sie über die Menschen nicht zu wissen. Wenn sie ausgetrunken hatte, würde sie gehen. Sie hatte genug getrunken. Die Orgie interessierte sie nicht. Sie ging. Sie ging heim zu ihren Tieren. Sie ging heim, um zu toben, heim, um anzuklagen. Der feige Philipp würde sich dem Mr. Hyde nicht stellen, er würde sich dem Toben entziehen, sie mußte gegen den Hauswart toben, sie mußte gegen die verschlossenen Türen schreien, gegen die Türen, hinter denen nur Berechnung und Kälte wohnten.
    Er schloß die Tür des Zimmers, und er sah, daß sie fror. Das häßliche Einbettzimmer, der schäbige Raum mit den billigen Schleiflackmöbeln, diese geschmacklose Einrichtung aus der Fabrik, war das die poetische Behausung, das Heim des deutschen Dichters? Er sah sie an, ›sie denkt, es ist eine Absteigen Er durfte jetzt nicht versuchen, zärtlich zu sein; er mußte sie niederwerfen, wie ein Kalb im Hof des Schlächters; er mußte sie niederwerfen, › da mit sie was von der Absteige hat‹. Verdorrt. Erstarrt. Er fühlte sich alt und fühlte sein Herz erkalten. Er dachte ›ich will nicht böse werden: kein Herz aus Stein‹. Er öffnete das Fenster. Die Hotelluft war dumpf und säuerlich. Sie atmeten die Nacht ein. Sie standen am Fenster
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