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Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Titel: Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Koeppen
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an nachzudenken, und er fand, daß das ihm überlieferte Weltbild nicht mehr stimmte. Vor allem entdeckte er, daß es schon Gelehrte gab, die wußten und verkündeten, daß dieses Weltbild nicht stimmte. Schnakenbach, um der Kaserne zu entgehen, schluckte Schlafentzugsmittel und studierte Einstein, Planck, de Broglie, Jeans, Schrödinger und Jordan. Er sah nun in eine Welt, in der Gottes Austragsstüblein aufgehoben war. Entweder gab es Gott garnicht oder Gott war tot, wie Nietzsche behauptet hatte, oder, auch dies war möglich und war so alt wie neu, Gott war überall, doch er war gestaltlos, kein Gottvater mit Bart, und der ganze Vaterkomplex der Menschheit von den Propheten bis Freud erwies sich als selbstquälerischer Irrtum des Homo sapiens, Gott war eine Formel, ein Abstrakt um, vielleicht war Gott Einsteins allgemeine Theorie der Schwerkraft, war das Kunststück der Balance in einer sich immer ausdehnenden Welt. Wo Schnakenbach auch war, er war die Mitte und der Kreis, er war der Anfang und das Ende, aber er war nichts Besonderes, jeder war Mitte und Kreis, Anfang und Ende, jeder Punkt war es, das Schlafkorn in seinem Auge, die ihm reichlich zugemessene Gabe des Sandmanns, war noch ein zusammengesetztes Ding, ein Mikrokosmos für sich mit Atomsonnen und Trabanten, Schnakenbach sah eine mikrophysikalische Welt, bis zum Bersten angefüllt mit dem Kleinsten, und, freilich, sie barst, barst fortwährend, explodierte in die Weite, entfloh in den unbeschreibbaren, den endlich unendlichen Raum. Der schlafende Schnakenbach war in dauernder Bewegung und Verwandlung; er empfing und verströmte Kräfte; aus den fernsten Teilen des Alls kamen sie zu ihm und flohen ihn, sie reisten mit AÜberlichtgeschwindigkeit und reisten Milliarden Lichtjahre, es kam auf die Betrachtungsweise an, erklären ließ es sich nicht, es ließ sich vielleicht in ein paar Zahlen aufnotieren, vielleicht konnte man es auf die abgerissene Hülle einer Pillenpackungschreiben, vielleicht brauchte man ein Elektronengehirn, um eine Annäherungsziffer zu finden, die wahre Summe würde unbekannt bleiben, vielleicht hatte der Mensch abgedankt. Edwin sprach von der Summa theologiae der Scholastik. »Veni creator spiritus, komm Schöpfer Geist, bleib Schöpfer Geist, nur im Geiste sind wir.« Edwin rief die großen Namen Homer, Vergil, Dante, Goethe. Er beschwor die Paläste und die Ruinen, die Dome und die Schulen. Er sprach von Augustin, Anselm, Thomas, Pascal. Er erwähnte Kierkegaard, die Christenheit sei nur noch ein Schein, und doch, sagte Edwin, sei dieser Schein, der vielleicht letzte Abendschein des müden Europas, das einzige wärmende Licht in der Welt. Die Modeschöpfer schliefen. Ihre Puppen schliefen. Alexander, der Erzherzogdarsteller, schlief. Sein Mund stand offen; Leere strömte ein und aus. Messalina kämpfte mit dein Schlaf. Sie dachte an Philipp und die reizende Grünaugige, und ob man nicht vielleicht doch noch Edwin für die Party gewinnen könne. Miss Wes-cott schrieb nach, was sie nicht verstand, aber für bedeutend hielt. Miss Burnett dachte ›ich habe Hunger, immer wenn ich einen Vortrag höre, kriege ich furchtbaren Hunger, mit mir muß was nicht stimmen: ich fühle mich nicht erhoben, ich fühle mich hungrige Alfredo, die zarte ältliche Lesbierin, hatte die Wange auf Hänschens Konfirmandenanzug gelegt und träumte etwas furchtbar Unanständiges. Häuschen dachte ›ob sie Geld hat?‹ Er war eine kleine Rechenmaschine; aber er war noch unerfahren, sonst hätte er wissen müssen, daß die arme Alfredo kein Geld hatte. Er hätte seinen Arm, auf den sie sich stützte, zurückgezogen. Hänschen war brutal. Jack versuchte, sich alles zu merken, was Edwin sagte. Jack war ein Papagei. Er sprach gern nach. Aber die Rede war zu lang. Sie ermüdete und verwirrte. Jack konnte sich immer nur für eine kleine Weile konzentrieren. Er hatte Sorgen. Er dachte an Hänschen. Hänschen wollte schon wieder Geld haben. Aber auch Jack hatte kein Geld. Kay war vom Whisky, den sie mit Emiliagetrunken hatte, benommen. Sie verstand ihren Dichter nicht. Was er sprach, war schön und weise; aber es war wohl zu hoch, Kay verstand es nicht. Doktor Kaiser hätte es wohl verstanden. Sie saß unbequem auf ihrem Feuerwehrsitz, und sie legte sich in den Arm des deutschen Dichters, der hart auf dem Polizeistuhl saß. Sie dachte ›vielleicht ist der deutsche Dichter leichter zu verstehen, er wird nicht so klug wie Edwin sein, aber vielleicht hat er mehr Herz,

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