Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Titel: Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras
Autoren: Wolfgang Koeppen
Vom Netzwerk:
wurde getanzt, bei Messalina gab es Vergessen. ›Wenn ich jetzt gehe‹, sagte sie sich, ›werde ich als Mister Hyde nach Hause kommen.‹ ›Schön‹, sagte sie sich, ›Philipp ist nicht hier. Wenn er es anders wollte, wäre er hier. Soll ich hier auf ihn warten? Bin ich eine Witwe? Will ich wie ein Eremit leben? Und wenn Philipp hier wäre? Was wäre dann? Nichts wäre! Keine Musik, kein Tanz. Wir würden uns düster gegenübersitzen. Die Liebe bliebe uns noch,die erotische Verzweiflung. Warum soll ich nicht trinken, warum nicht Mister Hyde sein?‹
    Philipp führte Kay aus dem Saal. Er sah noch, wie Edwin sich verneigte, wie lange er sein Gesicht zu Boden senkte, schäm voll die Augen schloß, als wäre der Dank, der ihm nun zuteil wurde, der Beifall, um den er geheim die Schauspieler und die Protagonisten der Zeit beneidet hatte, etwas Sichtbares und Gräßliches, aus reinem Mißverstehen entstanden, ein brutaler Niederschlag, der dem Nichtverstehen folgte, eine Befreiung der Zuhörer, die nichts von Edwins Worten begriffen hatten und die nun mit dem Beifallklatschen ihrer Hände noch den zarten und zärtlichen, den schon durch den Lautsprecher vergröberten und, als er sie erreichte, schon gestorbenen, schon toten, ja zu Staub und Moder gewordenen Anhauch seines Geistes als lästige Spinnwebe von sich streiften: es war eine Beschämung, und weil sie als Hohn und Beschämung und Sieg der Rührigkeit, der bloßen Konvention, des unrühmlichen Ruhmbetriebes und des Ungeistes von ihm erfaßt wurde, schloß der Dichter schamvoll die Augen. Philipp verstand ihn. Er dachte ›mein unglücklicher Bruder, mein lieber Bruder, mein großer Bruder‹. Emilia hätte gesagt: »Und mein armer Bruder? Das verschweigst du.« - »Gewiß. Auch mein armer Bruder«, hätte Philipp erwidert, »aber das ist unbedeutend. Was du arm nennst, ist das Herz des Dichters, um das sich Glück, Liebe und Größe der dichterischen Existenz legen, wie Schnee um den Kern der Lawine. Ein kaltes Bild, Emilia, aber Edwin, sein Wort, sein Geist, seine Botschaft, die in diesem Saal ohne sichtbare Wirkung blieben und keine wahrnehmbare Erschütterung hinterließen, zählen zu den großen Lawinen, die ins Tal unserer Zeit rollen.« - »Und zerstören«, hätte Emilia hinzugesetzt, »und Kälte verbreiten.« Aber Emilia war ja nicht da, sie war wohl zu Hause und schuf aus Schnaps und Wein den fürchterlichen Mister Hyde, der die Besitzzerstörung beweinte, der über die Zerstörung des Besitzes zum Süffel wurde und mit Zerstörung im kleinen, mit dem irren Toben des Betrunkenen gegen die große Zerstörung der Zeit kämpfte. Philipp führte Kay aus dem Saal. Sie entkamen den Lehrerinnen; sie entwischten Alexander und Messalina. Die kosmetisch gepflegten, gutangezogenen und vergleichsweise wohlsituierten amerikanischen Lehrerinnen standen arm wie verschüchterte deutsche Lehrerinnen im Vortragssaal. In ihre Merkbücher hatten sie tote Wörter geschrieben, eine Aufzählung toter Wörter, Grabzeichen des Geistes; Wörter, die sie nicht zum Leben, die sie zu keinem Sinn erwecken würden. Es erwartete sie eine Autobusheimfahrt ins Hotel, ein kalter Imbiß im Hotel, das Briefeschreiben nach Massachusetts wir-haben-eine-deutsche-Stadt-besichtigt,wir-haben-Edwin-gehört-es-war-wundervoll, es erwartete sie das Herbergsbett, und es war nicht viel anders als das Bett an anderen Orten der Reise. Was blieb? Der Traum blieb. Und dann die Enttäuschung mit Kay; die Reizende, die Schamlose, sie war mit dem deutschen Dichter, von dem man nicht mal wußte, wer er war und wie er hieß, davongelaufen, und es war sehr zu überlegen, ob man nicht die Polizei verständigen sollte, aber Miss Burnett war dagegen, und sie schüchterte Miss Wescott mit dem Skandal ein, den es wohl gäbe, wenn die Militärpolizei mit ihren Sirenenwagen die kleine treulose Kay suchen müßte. Das Amerikahaus, ein Führerbau des Nationalsozialismus, lag hinter Philipp und Kay. Das Haus sah, aus seinen symmetrisch aneinandergereihten Fenstern in die Nacht leuchtend, wie gewisse Museen aus, wie ein kolossales Grabmal der Antike, wie ein Bürogebäude, in dem der Nachlaß der Antike verwaltet wird, der Geist, die Heldensagen, die Götter. Kay wollte Philipp nicht begleiten, aber etwas in ihr sträubte sich nicht, ihn doch zu begleiten, und dieses Etwas riß die Kay, die nicht mit Philipp gehen wollte, mit, so stark war es, und es war Sehnsucht nach Romantik, Sehnsucht nach dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher