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Tanz im Mondlicht

Tanz im Mondlicht

Titel: Tanz im Mondlicht
Autoren: Luanne Rice
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hochprozentigem Apfelmost erteilt.
    Von seinem Vater hatte Dylan gelernt, die Bäume während der Knospenruhe zu beschneiden.
    Das Pfeifen des Zuges hatte Dylan heute aufgeschreckt, an diesem frostigen Märztag mit dem ersten Anhauch eines frühlingshaften Sonnenscheins. Es war nun weit entfernt, vermutlich fuhr der Zug gerade in den Bahnhof von Twin Rivers ein. Er hätte gerne gewusst, wer ein- und ausstieg. Wahrscheinlich fanden Familien wieder zusammen, vielleicht in diesem Moment.
    Ein paar Familien. Die froh sein konnten. Anderen war dieses Glück nicht beschieden.
    Die Knospenruhe.
     
    Jane Porter saß im Zug, die Stirn gegen das Fenster gepresst. Die Landschaft war ihr zutiefst vertraut. Sie kannte die sanft wogenden Hügel und unbegrenzten Wiesen wie ihren eigenen Atem. Es gab für ihren Geschmack zu viele neue Häuser und zu viele abgeholzte Bäume, doch sie blickte darüber hinaus auf das ungezähmte Land, die Apfelgärten und die knorrigen alten Bäume, deren Geäst sich in Erwartung des Frühlings rosa färbte.
    Bei der Abreise aus New York hatte sie diesen Kurzurlaub aus einer emotionalen Distanz betrachtet. Sie flog nicht gerne, und deshalb war sie von ihrem Apartment in Chelsea mit der U-Bahn zur Penn Station gefahren und in einen Amtrak-Zug gestiegen, der eine unterhaltsame Reise entlang der Küstenlinie von Connecticut bis ins Herz von Rhode Island versprach. Ein Teil von ihr hoffte, den Aufenthalt in ihrem Elternhaus darauf zu beschränken, dass sie Sylvie bei der Unterbringung ihrer Mutter in einem Pflegeheim half und umgehend zurückkehren konnte. Dieser Teil von ihr hoffte, nach getaner Arbeit so rasch wie möglich das Weite zu suchen.
    Der andere Teil, der das Schild »Vorübergehend geschlossen« an die Tür ihrer Konfiserie gehängt, ihrer Aushilfskraft bei der Suche nach einem neuen Job geholfen und auf ihrem Anrufbeantworter eine Nachricht hinterlassen hatte, die ihre Kunden an einen freundlichen Konkurrenten verwies, hatte geahnt, dass es ihr nicht gelingen würde, sich sang- und klanglos aus der Affäre zu ziehen.
    Hieß es nicht, dass man nicht mehr ins Nest zurückkehren kann, sobald man es verlassen hatte? Jane war in der Provinz aufgewachsen, zu einer Zeit, als Twin Rivers noch eine ländliche Idylle war, bevor die Einkaufszentren und all die neuen Häuser entstanden, als man noch beobachten konnte, wie die Vögel ihre Nester bauten. Sie war auf die Bäume geklettert, um die Eier zu zählen, hatte gesehen, wie die Jungen schlüpften, flügge wurden und am Ende auf und davon flogen.
    »Warum kommen sie nicht zurück?«, hatte sie ihre Mutter unter Tränen gefragt, untröstlich, weil die drei Rotkehlchen-Jungen, die im Mai geboren wurden, im Juni verschwunden waren.
    »Das ist der Lauf der Welt«, hatte ihre Mutter geantwortet und sie in die Arme geschlossen. »Vogeljunge lernen fliegen, und dann verlassen sie das Nest, um selbst nach Regenwürmern Ausschau zu halten und Eier zu legen. Sie werden flügge, genau wie Menschenkinder – du wirst schon sehen.«
    »Ich werde dich niemals verlassen«, hatte Jane an jenem Tag geschworen.
    »Du wirst«, hatte ihre Mutter erwidert. »Genau wie es die Natur vorgesehen hat.«
    Jane hatte angesichts der Worte ihrer Mutter störrisch den Kopf geschüttelt, so wie sie immer reagierte.
    »Nächster Halt Twin Rivers«, ertönte die Ankündigung des Schaffners im ganzen Zug. »Twin Rivers, am vorderen Ende des Waggons. Vorsicht beim Aussteigen, und danke, dass Sie mit Amtrak gefahren sind.«
    Jane erhob sich und zog ihre Reisetasche aus dem Gepäcknetz über ihrem Sitz. Dann holte sie vorsichtig die große Tortenschachtel herunter. Steif von der Fahrt, schlang sie den Rucksack über eine Schulter und begann, sich den Weg zum vorderen Teil des Waggons zu bahnen. Als der Schaffner ihr seine Hilfe anbot, schüttelte sie den Kopf. Sie war daran gewöhnt, alles aus eigener Kraft zu bewältigen; sollte er seine Hilfe jemandem anbieten, der sie benötigte.
    An der Zugtür legte sie schützend die Hand über die Augen, blickte auf dem Bahnsteig hin und her. Nur wenige Leute waren gekommen, um jemanden abzuholen; sie entdeckte Sylvie auf Anhieb. Die Gefühle drohten sie zu übermannen. Ihre kleine Schwester.
    Jane hatte Sylvie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen, doch sie hatte sich kein bisschen verändert: blond, strahlend, eine auffallende Erscheinung, wie ein Filmstar. Aber dessen war sich Sylvie offenbar nicht bewusst: Mit ihrem langen geblümten Kleid und
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