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Talk Talk

Talk Talk

Titel: Talk Talk
Autoren: T.C. Boyle
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Fernsehen gesehen hatte. Aber warum? Was hatte sie getan? Und warum schweifte sein Blick immer wieder von der Straße zum Rückspiegel, als wäre sie in diesem Käfig und mit gefesselten Händen noch immer gefährlich, als rechnete er damit, daß sie ihre Gestalt verändern, Galle speien, Flüssigkeiten und Gestank absondern würde? Warum dieser Haß, diese Erbitterung?
    Das Blut brannte in ihren Adern, ihr Gesicht war rot vor Scham, Wut und Hilflosigkeit, und schließlich begriff sie: eine Verwechslung. Natürlich. Was denn sonst? Eine Frau, die aussah wie sie – irgendeine andere schlanke, zierliche zweiunddreißigjährige Gehörlose mit dunklen Augen, die nicht mit einem Stapel Hausarbeiten, die noch vor Unterrichtsbeginn durchgesehen und benotet werden mußten, unterwegs zum Zahnarzt war –, hatte eine Bank überfallen, in der Nachbarschaft herumgeballert, ein Kind überfahren und Fahrerflucht begangen. Das war die einzige Erklärung, denn sie hatte noch nie gegen ein Gesetz verstoßen, höchstens auf ganz und gar alltägliche, geradezu unschuldige Weise: Sie war, wie Hunderte anderer Fahrer vor, neben und hinter ihr, zu schnell gefahren, sie hatte als Teenager mal einen Joint geraucht (sie war mit Cherry Cheung und später mit Richie Cohen durch die Gegend gezogen, stoned wie ein Ei, aber das hatte niemand gewußt und niemanden interessiert, am allerwenigsten die Polizei), sie hatte ein paar Strafzettel wegen falschen Parkens bekommen, aber die waren allesamt bezahlt und hatten keine Punkte gekostet. Das nahm sie jedenfalls an. Neulich, in Venice, die sechzig Dollar, als sie nur zwei Minuten zu spät gekommen war und die Politesse trotz ihrer inständigen Bitten ungerührt den Strafzettel ausgefüllt hatte – die hatte sie doch bezahlt, oder?
    Nein, es war wirklich die Höhe! Diese ganze Sache, der Schock, die Angst. Aber dafür würden sie büßen, o ja, sie würde sich einen Anwalt nehmen – polizeiliche Brutalität, Inkompetenz, Freiheitsberaubung, das ganze Programm. Gut. Bitte. Wenn sie es so haben wollten... Der Wagen schaukelte unter ihr. Der Polizist saß da wie eine Schaufensterpuppe. Sie schloß die Augen – eine alte Angewohnheit – und zog sich aus der Welt zurück.
    Sie notierten ihre Personalien, nahmen ihre Fingerabdrücke, nahmen ihr das Handy, ihre Ringe, den Jadeanhänger und die Handtasche ab und stellten sie – erniedrigt, verzweifelt, mit hängenden Schultern und leerem Blick – vor eine Wand, wo sie der weiteren, anhaltenderen Demütigung des Fotografiertwerdens ausgesetzt war. Und noch immer nichts. Keine Anklage. Kein Sinn. Die Lippenbewegungen der Beamten waren nicht zu entziffern, und schließlich ließ sie ihre Stimme los, bis es war, als bekäme diese Flügel, als flatterte sie durch den Raum mit den stumpfgrauen Wänden, den gerahmten Auszeichnungen und der Fahne, die in schlaffer Bestätigung dieses korrupten, wankenden Systems an einem Flaggenstock aus schimmerndem Messing hing. Sie war außer sich. Verletzt. Wütend. Aufgebracht. »Es muß ein Irrtum sein«, beharrte sie. »Ich heiße Dana, Dana Halter. Ich bin Lehrerin an der Gehörlosenschule in San Roque, und ich habe niemals... Sehen Sie nicht, daß ich taub bin? Sie haben die Falsche.« Sie wandten sich ab und zuckten die Schultern, als wäre sie eine Verirrung der Natur, ein sprechender Delphin oder die Puppe eines Bauchredners. Aber keine Erklärung. Für sie war sie bloß irgendeine Kriminelle, eine Täterin, ein hoffnungsloser Fall, den man am besten wegsperrte und ignorierte.
    Aber man sperrte sie nicht weg, noch nicht. Sie war mit Handschellen an eine Bank in einem Korridor hinter dem Tresen gefesselt, doch warum, das hatte sie nicht verstanden. Der Polizist – es war der wachhabende Beamte, ein Mann von Mitte Dreißig, der ein beinahe bedauerndes Gesicht machte, als er ihren Arm nahm – hatte sein Gesicht abgewandt, als er sie sanft, aber mit Nachdruck zum Sitzen aufgefordert und angekettet hatte. Die Sache klärte sich, als ein ausgebleichtes Männlein mit unsicherem Gesicht und einem blassen Strich von einem Schnurrbart eintrat und gestikulierend auf sie zukam. Sein Name – den er ihr mit Fingerzeichen buchstabierte – war Charles Iverson, und er war Gebärdendolmetscher. Ich unterrichte auch manchmal an der Gehörlosenschule in San Roque , teilte er ihr mit. Ich habe Sie dort gesehen.
    Sie erkannte ihn nicht – oder vielleicht doch. Seine adrette kleine Erscheinung kam ihr irgendwie bekannt vor,
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