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Talk Talk

Talk Talk

Titel: Talk Talk
Autoren: T.C. Boyle
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sie neben ihm – oder mit ihm – tanzen können. Seine Augen waren zu groß und standen vor wie bei einem Boston Terrier – wie war noch mal der Fachausdruck dafür? Exophthalmus . Trotz der vertrackten Situation verspürte sie kurz eine warme Befriedigung. Aber der Polizist... Zusammen mit den wäßrigen, weinerlichen Augen verlieh das weiche Kinn seinem Gesicht etwas Unfertiges, als wäre er gar kein Gleichaltriger, sondern ein Bürschchen, ein Jüngelchen mit einem zu großen Kopf, das sich, herausgeputzt mit einer geschniegelten Uniform, zum Vertreter der Staatsgewalt aufwarf. Sie sah, wie sein Ausdruck sich veränderte, als sie sprach, aber daran war sie gewöhnt.
    Er sagte noch etwas, und diesmal erriet sie es gleich und reichte ihm den laminierten Führerschein und die Zulassungskarte, und im selben Augenblick rutschte ihr die Frage heraus, was denn eigentlich los sei, obwohl sie wußte, daß ihr Gesicht sie verraten würde. Wenn sie jemanden etwas fragte, zog sie immer die Augenbrauen zusammen und sah dann vorwurfsvoll oder gar wütend aus – sie hatte versucht, das abzustellen, allerdings ohne großen Erfolg. Er trat einen Schritt zurück und sagte noch etwas – vermutlich, daß er zu seinem Wagen gehen, die Standardüberprüfung ihrer Papiere vornehmen und den Standardstrafzettel ausstellen würde, weil sie ein Standardstoppschild überfahren hatte –, aber diesmal hielt sie den Mund.
    In den ersten paar Minuten merkte sie gar nicht, daß die Zeit verging. Sie dachte nur daran, was sie das kosten würde, an die Punkte im Verkehrssünderregister, den Aufschlag bei der Versicherung – war das mit dem Strafzettel für zu schnelles Fahren letztes oder vorletztes Jahr gewesen? – und daran, daß sie jetzt unweigerlich zu spät kommen würde. Zum Zahnarzt. Das alles nur wegen dem Zahnarzt. Und wenn sie zu der Behandlung, die mindestens zwei Stunden dauern würde – das hatte man ihr, zur Vermeidung von Mißverständnissen, schriftlich mitgeteilt –, zu spät kam, würde sie nicht rechtzeitig zum Unterrichtsbeginn in der Schule sein, und niemand würde sie vertreten. Sie überlegte, wie sie das Problem des Telefonierens lösen könnte – wahrscheinlich müßte die Sprechstundenhilfe das übernehmen, aber dennoch: Was für ein Theater! Warum dauerte das so lange? Am liebsten hätte sie sich umgedreht und einen vernichtenden Blick auf die gleißende Windschutzscheibe geworfen, aber sie beherrschte sich und senkte die linke Schulter, um in den Außenspiegel zu sehen.
    Nichts. Sie erkannte nur eine Gestalt, die Gestalt des Polizisten, ein massiger Schatten mit gesenktem Kopf. Sie sah auf die Uhr im Armaturenbrett. Seit zehn Minuten saß er jetzt schon in seinem Wagen. Sie fragte sich, ob er lernbehindert war, ein Legastheniker, einer, der sich nur schlecht an den Paragraphen erinnerte, gegen den sie verstoßen hatte, der den Bleistiftstummel mit ungeschickten Fingern hielt und besonders fest aufdrückte, wegen des Durchschlags. Ein Dussel, ein Trottel, ein Schwachkopf. Ein Neandertaler . Sie ließ das Wort über ihre Zunge rollen, Silbe für Silbe – Ne-an-der-ta-ler –, und betrachtete im Rückspiegel die Bewegungen ihres Mundes.
    Sie dachte an den Zahnarzt, diesen unermüdliche Plauderer mit Augenbrauen, die über sein Gesicht zu kriechen schienen, wenn er sich über sie beugte, und der offenbar gar nicht merkte, daß sie nur mit Grunzern antworten konnte, weil die Wattebäusche ihre Zunge behinderten und der Absaugschlauch an der Lippe zerrte, als die Tür des Polizeiwagens blitzend aufschwang und der Polizist ausstieg. Etwas war nicht in Ordnung. Seine Körpersprache war verändert, ganz und gar verändert: Die Beine waren nicht mehr steif, er hatte die Schultern nach vorn gezogen, und seine Schritte wirkten übertrieben vorsichtig. Sie sah in den Rückspiegel, bis das Gesicht des Mannes ihn ganz ausfüllte – sein Mund war hart und schmal, die zusammengekniffenen Augen blickten unsicher –, und dann wandte sie ihm den Kopf zu.
    Das war der erste Schock.
    Er stand drei Schritte von ihrer Tür entfernt, zielte mit dem Revolver auf sie und sagte irgendwas über ihre Hände – er bellte sie an, sein Gesicht war wutverzerrt –, und er mußte es mehrmals wiederholen und wirkte immer wütender, bis sie endlich verstand: Lassen Sie Ihre Hände da, wo ich sie sehen kann!
    Zuerst hatte sie vor lauter Angst nichts sagen können. Sie hatte stumpf gehorcht, eingeschüchtert von der elementaren Gewalt des
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