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Tom Thorne 03 - Die Blumen des Todes

Titel: Tom Thorne 03 - Die Blumen des Todes
Autoren: Mark Billingham
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10. August 1976
    Zentimeter um Zentimeter tastete er sich vor, die kleinste Muskelkontraktion brachte ihn weiter über den Rand des schmalen, glänzenden Stiegengeländers. Er verdrehte seine Handgelenke, wickelte sie ein weiteres Mal fest in das Handtuch. Verbaute sich jedes Entkommen, denn er wusste, sein Körper würde verzweifelt danach suchen. Würde instinktiv kämpfen, um freizukommen.
    Seine Fersen schlugen rhythmisch gegen die Geländer- sprossen unter ihm. Das blaue Abschleppseil, das er hinten in der Garage gefunden hatte, juckte ihn am Hals. Er lächelte innerlich. Selbst wenn es ihm möglich gewesen wäre, sich zu kratzen, es wäre albern gewesen. Ungefähr so, als betupfe man die Einstichstelle, um sie zu desinfizieren, bevor man die tödliche Dosis injizierte.
    Er schloss die Augen, senkte den Kopf und ließ sich von seinem Gewicht nach vorn und dann nach unten ziehen.
    Ein Gefühl, als reiße ihm der Ruck den Kopf von den Schultern, dabei reichte er nicht mal aus, ihm einen Knochen zu brechen. Er hatte nicht die Zeit gehabt, um alles durchzurechnen, die ideale Fallhöhe für sein Gewicht zu kalkulieren. Selbst wenn er die Zeit gehabt hätte, hätte er das richtige Verhältnis wohl nicht gewusst. Er erinnerte sich, irgendwo einmal gelesen zu haben, den richtigen Henkern - hießen sie nun Pi errepoint wie der berüchtigte Henker mit seinen vierhundert Hinrichtungen oder sonst wie - habe für ihre Berechnung der nötigen Fallhöhe genügt, dem Verurteilten die Hand zu schütteln.
    Freut mich, Sie kennen zu lernen, vier Meter, schätz ich, reichen …
    Er biss die Zähne gegen die Schmerzen zusammen. Er hatte sich beim Sturz an der Treppenkante die Haut am Rückgrat abgeschürft. Er spürte, wie ihm Blut warm über das Kinn lief. Offensichtlich hatte er sich die Zunge durchgebissen. Der Geruch von Motoröl stieg ihm in die Nase, das musste der Strick sein.
    Er dachte an die Frau auf dem Bett, keine drei Meter entfernt von ihm.
    Es wäre wunderbar gewesen, ihr Gesicht sehen zu können, wenn sie ihn fand. Ihr verlogener Mund würde aufklappen, sie würde nach oben fassen, um seine schaukelnde Leiche anzuhalten. Perfekt wäre das gewesen, aber natürlich unmöglich. Sie würde ihn nicht finden.
    Jemand anders würde sie beide finden.
    Der Gedanke drängte sich ihm auf, welchen Reim sich wohl die Behörden darauf machen würden. Was die Zeitungen darüber schreiben würden. Ihre Namen würden fallen, würden wieder in bestimmten Büros und Wohnzimmern hinter vorgehaltener Hand geflüstert werden. Sein Name, der Name, den er ihr gegeben hatte, würde im Gericht widerhallen wie bereits so häufig, würde durch den Schmutz gezogen werden, durch den Dreck, der sich um sie gelegt hatte wie ein Ölteppich. Dieses Mal wären sie beide Gott sei Dank nicht anwesend, wenn man sich über sie das Maul zerriss, über diese Tragödie, über ihren verwirrten Geisteszustand. Wogegen sich schlecht etwas einwenden ließ, in diesem Augenblick. In dem er auf seinen Tod wartete und sie oben lag, ihm dreißig Minuten voraus, in ihrem Schlafzimmer, wo sich der hellbeige Teppich voll sog mit ihrem Blut.
    Der verwirrte Geisteszustand, unter dem sie beide gelitten hatten – das war sie gewesen. Es war alles ihre Schuld.
    Vor einer halben Stunde hatte sie versucht, sich mit den Händen zu schützen.
    Acht Monate zuvor hatte sie auf dem Boden im Lager die Hände ausgestreckt, die Beine gespreizt.
    Es war ihre Schuld …
    Es würgte ihn, er spuckte Blut, spürte, wie sich ein Schatten über ihn zu senken begann, wie das Leben – dankenswerterweise – anfing, aus ihm zu weichen. Wie viel Zeit war vergangen! Zwei Minuten! Fünf ! Er stieß mit den Füßen nach unten, als könne er kraft seines Willens sein Gewicht zwingen, dieses Werk schneller zu Ende zu bringen.
    Er hörte etwas wie ein Quietschen und dann ein erstauntes Murmeln. Er schlug die Augen auf.
    Die Eingangstür war in seinem Rücken, in seiner Blickrichtung lag die Treppe. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung der Schultern versuchte er genug Schwung für eine Drehung aufzubringen. Nachdem er sich, Sekunden bevor er starb, langsam um sich selbst gedreht hatte, blickte er, die hervorquellenden Augäpfel blutunterlaufen, in die unschuldigen braunen Augen eines Kindes.

Erstes Kapitel
    Die Turnschuhe vermasselten alles.
    Der Mann mit der Proletenfrisur und den Schweißperlen über der Oberlippe trug einen schicken blauen Anzug, den er sich ohne Zweifel extra für diesen Anlass
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