Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Autoren: Fritz J. Raddatz
Vom Netzwerk:
erreicht, daß es ALS LESERBRIEF erscheint. ICH hätte nie den Hörer für ein solches Gespräch abgehoben, und wäre es um einen veritablen Essay gegangen – – – – aber der wäre dann eben auch nicht gedruckt worden. So hat alle Welt Hochhuth mit seiner BERLINER ENSEMBLE-Intrigue verlacht – – – – ABER: Dorten läuft nun, seit Wochen ausverkauft, sein STELLVERTRETER. ICH hätte mit einem Herrn Peymann, zu dem ich ( recte: Hochhuth) nie über das Vorzimmer hinausgelange, der nie antwortet und ablehnt, auch nur 1 Wort zu oder mit mir (= Hochhuth) zu reden: gebrochen, alles zurückgezogen. Aber ich wäre dann eben nicht «gespielt» worden – – – so, wie ich nun in der ZEIT nicht «gespielt» werde, ni fleur ni couronne aus dem Hause schleiche, keine Verabschiedung, kein: «Bitte bleiben Sie», kein Händedruck: schlichtweg GARNIX. In 2 Tagen gehe ich das letzte Mal nach 25 Jahren aus diesem Hause, gleichsam zur Hintertür hinaus, der Bürstenbinder, der nun lange genug an der Klingel lästig war und sich doch bitte sehr zum Dienstbotenausgang schleichen möge.
    Wunderbare Illustration dieser Tage in den Zeitungen zum Thema «wann ist etwas Kunst» beziehungsweise «braucht Kunst einen eigenen kulturellen Hintergrund – und auch/vor allem den des Marktes, um als solche erkannt zu werden?»: In einem balkanischen Nest namens Medzilaborce, aus dem wohl die Vorfahren von Andy Warhol stammen, gibt es Ur-Verwandte des Berühmten und ein nicht ganz regendichtes Warhol-Museum, in dem den Betrachtern wohl die Kuh von Warhol am liebsten ist. Einwohner oder Tanten oder der Vetter Maichal Warhola (der ihm SEHR ähnlich sieht) haben keine Ahnung, wer dieser Maler war/ist, sie finden manches lustig, gehen in den von ihm bemalten Schuhen spazieren (1000e von Dollar wert) und machen aus seinen Zeichnungen (vermutlich gar Millionen Dollar wert) Kindertrompeten. WÜSSTEN sie den Wert – nähmen sie’s auch als Kunst, DANN wäre es was.
    Ein Indio vom Amazonas würde also vermutlich meinen Dix grauslich finden (wie ja bereits Einwohner von der Isar den Botero entsetzlich fanden/finden: Ich mußte ein großes Laken drüberhängen, wenn Frau Pastor Mund zu Besuch kam). Ob nun einen Cranach oder einen Picasso – sind die Augen/ist das Hirn frei vom einbettenden kulturellen Bezug und ist die Seele «rein» vom den Genuß mitbestimmenden Geld-Wert; ist Kunst nicht Kunst, würde ein solcher Betrachter meinen kleinen Goya «nach Velázquez» nur sich schüttelnd als Abbild eines Krüppels sehen. Wäre einen Essay wert.
    4. Dezember
    ZEIT-Ende. Schmählich. Wortlos. NIEMAND, absolut niemand fand 1 Wort (ich meine damit nicht eine dieser peinlichen «Verabschiedungen» mit Lügenreden und Gavi-Wein), niemand kam heute, gestern, vorgestern in mein Zimmer, niemand sagte: «Wollen wir nicht künftig dennoch …», niemand – natürlich – schrieb 1 Zeile, dieser seltsame Michael Naumann – der mal befreundet mit mir tut, in MEIN Ohr seinen Hohn über die Mitarbeiter pustet, die er alle verachtet und der ja sowohl einstens mein Verleger war als auch mein Laudator noch vor wenigen Wochen: antwortet schlichtweg 2 Monate lang nicht auf meinen Abschiedsbrief, mit dem ICH noch nobel IHN zu einem Glas Wein einlud. Also schlich ich aus dem Hause (heute war der Umzug der letzten Kartons, des Schreibtisches, des Grass-Bildes «Bölls Schreibmaschine») – – – ich räumte Bücher, Akten, Ordner im neuen Tucholsky-Stiftungs-Büro ein, ging noch einmal in mein leer-geräumtes Büro, um mich von der tapferen Heide Sommer zu verabschieden, blickte auf die leeren Wände, in denen ich nun Jahre offensichtlich DIE ZEIT geschändet, und auf den Platz, an dem der Schreibtisch stand/gestanden HATTE, an dem ich ein volles Vierteljahrhundert – – – – – nun ja: was? NUR Sinnloses verzapft? NUR der ZEIT Schande gemacht? NUR obsolet war?
    Die Antwort weiß zwar nicht der Wind, aber ich weiß sie auch nicht.
    So schlich ich wie ein Bürstenhändler durch den Dienstbotenausgang hinaus.
    Gran Hotel Bahia del Duque Gran Melia – Tenerife, den 19. Dezember
    Schön-grausliche 10 Tage: schön, weil Wind, Sonne, Schwimmen, das alte Lied: auf diesen häßlichen Inseln das mir bekömmlichste Klima, man kann geradezu sehen, wie stündlich Falten in der Haut verschwinden.
    Grauslich, weil ZEIT-Ende und ZEIT-Kränkung zu einem wahren Lemuren-Tanz der Träume führen, Nacht für Nacht ich mir die «Schutz-Truppen» meiner ehemaligen Welt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher