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Tagebücher der Henker von Paris

Tagebücher der Henker von Paris

Titel: Tagebücher der Henker von Paris
Autoren: Henri Sanson
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zu ihrem Gemahle.
    Jean Baptiste seufzte tief. Mit dem Egoismus, der allen menschlichen Leiden anhängt, beschäftigte er sich vor allem mit dem, was seine Gesundheit anging. Charles' Gegenwart hatte seinen Zustand derartig verbessert, daß er nicht ohne Schrecken daran dachte, sein Bruder könne wieder abreisen. Er erwiderte nur, es sei gar nicht außergewöhnlich, daß ein junger Offizier, der gewöhnt sei, in die Welt zu kommen, sich in dem traurigsten Hause einer kleinen Landstadt langweile; sie möge daher alles, was in ihren Kräften stehe, tun, damit ihn diese Langeweile nicht bestimme, sie zu verlassen.
    An demselben Abende schlug Colombe ihrem Schwager einen kleinen Ausflug auf das Land vor; Jean Baptiste, der einen schlechten Morgen gehabt hatte, schützte das Bedürfnis, zu schlafen vor und vereinigte seine Bitten mit denen seiner Frau. Sie schlugen den Weg ein, auf dem Charles eingetroffen war, und verfolgten nachher einen schmalen Fußsteig, der zwischen Kornfeldern fortführte.
    Charles und Colombe gingen Seite an Seite. Der Arm der jungen Frau ruhte auf dem ihres Freundes; in einer unschuldvollen Hingebung lehnte sie ihren Kopf an die Schulter ihres Begleiters, und ihre langen wallenden Haare, die im Winde wehten, berührten mit ihren seidenen Spitzen sein Gesicht.
    Colombe erschien ebenso ruhig wie die sie umgebende Natur zu dieser Stunde, mit der für sie die Ruhe begann. Sie schien nur daran zu denken, wie sich die Wolken auf der Stirn ihres Bruders zerstreuen ließen, und um dahin zu gelangen, hatte sie nichts besseres gefunden, als ihn an die schönsten Szenen ihrer kindlichen Zärtlichkeit zu erinnern.
    Aber Charles wurde immer düsterer, seine Aufregung sogar sonderbar. Bald ging er schnell, als wolle er seine Gefährtin in eine noch viel größere Einsamkeit, als diese hier, mit sich ziehen, bald blieb er stehen; er schien umkehren zu wollen, und Colombe fühlte, daß er zitterte.
    »Charles,« sagte sie zu ihm, »ist es wahr, wie Jean Baptiste behauptet, daß du dich wieder nach deinem Abenteurerleben sehnst?«
    Charles antwortete nicht.
    »Charles,« fuhr sie fort, »bist du denn nicht mehr glücklich bei deinem Bruder, der dir so teuer ist, und deiner Schwester –«
    Das letzte Wort erstarb auf den Lippen Colombes, sie wagte nicht fortzufahren; Charles verharrte in seinem Schweigen. Plötzlich durchzuckte eine Ahnung von dem, was in der Seele ihres Jugendgespielen vorging, Colombe; sie zitterte, als wäre sie aus einem Traume erwacht.
    »Charles, Charles,« murmelte sie mit vor Bewegung zitternder Stimme. »Gott hat gewollt, daß wir für immer Bruder und Schwester bleiben. Ehren wir seinen Willen, mein Freund, und haben wir keinen Seufzer der Sehnsucht mehr für die Träume unserer Kindheit. Sollte denn die heilige Zuneigung, die uns vereinigt, nicht zu unserem Glücke hinreichen? Möchtest du dich undankbar gegen die Vorsehung zeigen, die mir erlaubt hat, dich noch ohne Gewissensbisse lieben zu dürfen?«
    Während Colombe so sprach, hatte sie das Haupt erhoben, um ihrem Gefährten ihre Stirn zu bieten. Dieser hatte sich zu ihr hinabgeneigt; statt der Stirn der jungen Frau aber waren es ihre Lippen, die sein Mund fand.
    Eine Sekunde lang blieben die beiden in eine Verzückung versenkt, welche sie Himmel und Erde vergessen ließ.
    Charles kam zuerst wieder zu sich. Er erhob die Faust gegen das Himmelsgewölbe, stieß eine Gotteslästerung aus und entfloh dann, außer sich, mitten durch die Felder.
    Colombe kehrte allein nach Hause zurück.
    Am nächsten Tage empfing Jean Baptiste einen Brief von seinem Bruder, worin dieser ihm seinen Entschluß ankündigte, Abbeville zu verlassen, und ihn bat, ihm zu verzeihen, wenn er nicht den Mut gehabt habe, ihm dies selbst zu sagen.
    Einige Zeit später kaufte er eine Leutnantsstelle im Regimente de la Boissière.
    Er hatte nicht wieder zur See gehen wollen, denn er begriff wohl, daß, wenn die Pflicht seine Entfernung gefordert hatte, sie ihm nichtsdestoweniger doch gebot, über die geliebten Wesen zu wachen, deren einzige Stütze er blieb.
    Jean Baptiste nannte seinen Bruder undankbar. Was Colombe anbetraf, so sah man sie seit diesem Tage nie wieder lachen.
Das Horoskop
    Im Jahre 1662 ahnte die Stadt Dieppe noch nicht die Umformung, welche die moderne Therapeutik, unterstützt durch die Vorliebe für den Schutz einer erhabenen Fürstin, ihr für die Zukunft aufbewahrte.
    Es war eine ausschließlich handeltreibende Stadt.
    Natürlich waren um jene
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