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Tagebücher der Henker von Paris

Tagebücher der Henker von Paris

Titel: Tagebücher der Henker von Paris
Autoren: Henri Sanson
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logisch, zu leugnen, was er selbst nicht kannte. Für ihn hatte das Leben ein gewisses Programm, das alle Zufälle von Wichtigkeit im voraus berechnete; er war fest überzeugt, daß es nur Gott allein zustehe, etwas daran zu ändern.
    Charles' Dringen auf ihn verletzte seine Gefühle; er hörte auf zu lachen und sprach zu seinem Neffen mit einer Strenge, an die er ihn nicht gewöhnt hatte. Er sagte ihm, daß man in seinem Alter und in seiner Lage daran denken müsse, sich eine Existenz dadurch zu begründen, daß man dem Könige diene, und nicht, sich zu bereichern, indem man eine Frau nähme. Er setzte hinzu, daß, wenn er auch nicht beschlossen hätte, seine Tochter an den ältesten seiner Neffen zu verheiraten, an den, welchen die Vorsehung bestimmt habe, sein Geschlecht fortzuführen, nichts in der Welt ihn vermögen könne, jene einem Kadetten zu geben. Er warf ihm auf harte Weise seine Undankbarkeit vor.
    Charles erhob sich schwankend und ging gesenkten Hauptes aus dem Saale.
    Hinter der Tür des Korridors erblickte er eine weibliche Gestalt, die auf den Steinen saß.
    Es war Colombe, welche die Unterhaltung ihres Vaters und dessen, den sie liebte, belauscht hatte und jetzt, das Gesicht in ihre Hände verbergend, bitterlich weinte.
    Als sie den Schritt ihres Freundes hörte, erhob sie den Kopf nicht; Charles ging, ganz seiner Verzweiflung hingegeben, schweigend an ihr vorüber.
    Beide hatten begriffen, daß für sie alles in dieser Welt zu Ende sei.
    Der junge Mann verließ sogleich das Asyl seiner Kindheit; er floh zu einem Verwandten, der in Amiens wohnte, und ging von da nach Paris. Aber in Paris befand er sich noch in gar zu großer Nähe Colombes.
    Als der Tag, der für die Hochzeit Jean Baptistes und Colombes festgesetzt war, näher herankam, fürchtete er, in dem Kampfe zwischen Liebe und Pflicht den Verstand zu verlieren.
    In einem dieser niederdrückenden Augenblicke, die der Krise, in der sich seine Verzweiflung zum Paroxismus gesteigert hatte, folgten, ergriff ihn Furcht.
    Er beschloß, bis an das Ende der Welt zu gehen, um sich der Verführung zu entziehen, gegen die ihn der Gedanke, daß Colombe einem anderen angehöre, so schwach machte.
    Er glaubte, das Gespenst, das ihn weder Tag noch Nacht verließ, würde verschwinden, wenn er die Luft nicht mehr atmete, die sie atmete, wenn er nicht mehr Wesen sähe, die ihn an ihre Züge erinnerten, nicht mehr die klangvolle Sprache hörte, die sie redete; er glaubte, daß die Entfernung auch Vergessenheit mit sich bringe und daß er jenseits der Meere sein Herz wiederfinden werde, das er ihr streitig machen konnte.
    Er beschloß also, sich einzuschiffen.
    Als er seinen Namen genannt hatte, nahm ihn der Großadmiral von Frankreich unter die Zahl der Flaggengarden Seiner Majestät Marine auf; er reiste auf der Stelle nach Rochefort, bat um den Befehl zur Einschiffung und ging wenige Tage nach seiner Ankunft in dieser Stadt nach Kanada unter Segel. In Quebeck fand er eine Schwester seines Vaters wieder, deren Haus sich ihm öffnete.
    Aber weder die unwiderstehlichen Zerstreuungen, welche die Neue Welt einer so frischen Einbildungskraft darbot, noch der herzliche Empfang, den er bei seiner Tante fand, noch die Freundschaft, die ihm sein Cousin Paul Bertaut mit dem naiven Vertrauen seines jugendlichen Alters zutrug, konnten in dem traurigen Zustande seines Herzens eine Änderung hervorbringen.
    Als er zum zweiten Male nach Toulon zurückkehrte, fand er dort einen Brief, der ihn schon erwartet hatte.
    Dieser Brief war von Colombe, und Colombe rief ihn unverzüglich zu sich.
    Er ließ sich kaum die Zeit, Urlaub zu nehmen, und reiste ab. Während dieser Reise wurde er von den verschiedensten Vermutungen beunruhigt.
    Colombes Brief war kurz; er konnte zu der Annahme berechtigen, daß sie ein großes Unglück betroffen habe; sie sprach darin gar nicht von seinem Bruder.
    War Jean Baptiste tot?
    Eine Sekunde der Überlegung reichte hin, dieses blendende Zauberbild zu zerstören.
    Sollte er sie auch als Witwe finden, sollte er sie auch frei finden, diese für ihn in der Welt allein geheiligte Frau – er hatte das Recht verloren, nach ihrer Hand zu streben, und er dachte mit Schrecken daran, daß, nachdem er die Eifersucht auf einen Bruder kennengelernt habe, er vielleicht auch noch die auf einen Fremden werde ertragen lernen müssen.
    Man brauchte damals beinahe fünf Wochen, um von Toulon nach Abbeville zu kommen. Charles reiste Tag und Nacht und legte den Weg in
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