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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer
Autoren: Sándor Márai
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Existenz. Diese Typen werden sich niemals ändern. Aber solange sie Einfluss und das Sagen haben, wird Ungarn nicht zu einer Nation.
    Dem lässt sich nur durch eine Erziehung abhelfen, die die Seelen der Kinder erreicht.
    Ich beneide all jene, die das, was jetzt geschieht, mit einer Art überlegenem Phlegma über sich ergehen lassen können, nicht um ihr Naturell.
    Ich beobachte mich, ob ich schon etwas von einer »Befreiung« spüre?
    Ich muss dieses Tagebuch zum Beispiel seit zwei Tagen nicht mehr auf irgendwelchen Dachböden verstecken wie in den Monaten zuvor. Das ist bisher alles, was mir auffällt. Aber es ist ohnehin nicht möglich, ganz »von außen« befreit zu werden: Eine echte Befreiung kann nur von innen kommen.
    Seit einer Woche ohne Strom, ohne Radio. Am Abend bringt man mir ein getipptes Blatt: irgendjemand in der Gemeinde besitzt ein Batterieradio und hat heute – am Silvestertag – einen kurzen Bericht aus den ausländischen Nachrichten zusammengestellt.
    Ich erfahre, dass in Buda, am Margaretenring, südlich der Zitadelle, an der Miklós-Horthy-Straße, heftige Kämpfe toben; es gibt weder Strom noch Gas in der Stadt; zu essen bekommt nur, wer gegen die Russen kämpft; siebzigtausend Deutsche sind in der Stadt eingeschlossen und kämpfen sich mit den Pfeilkreuzler-Schergen von Haus zu Haus; und sie haben alle Donaubrücken in die Luft gesprengt.
    Nachts liege ich mit offenen Augen im Dunkeln, bis zum Morgengrauen. Als sei – in der Ferne – das Todesröcheln der Millionenstadt zu hören. Das war einmal Budapest, die Hauptstadt meiner Heimat … ich kann nicht sagen, was es war. Für mich war es alles. Vielleicht sind die Radionachrichten übertrieben; die Wirklichkeit ist manchmal einfacher, manchmal aber auch schrecklicher als in den Meldungen. (In letzter Zeit eher schrecklicher.) Alle Menschen und alle Dinge, die zu mir gehören, sind in der Stadt: meine Freunde, meine Bücher … ja, selbst meine Feinde. Das Schicksal hat jetzt alle, Juden, Christen, Freund und Feind, in einen Kessel geworfen und verkocht das Ganze zu einem heißen Brei. Wird die Zeit aus diesem Brei jemals eine Gesellschaft, eine Nation kneten? Ich habe keine Antwort darauf.
    Ich sehe im Dunkeln die Brücken vor mir. Diese Brücken haben nicht nur Stadtteile, sie haben etwas miteinander verbunden, worin die Bedeutung Ungarns lag; und nun gibt es sie nicht mehr.
    Wer ist dafür verantwortlich? Kann Rache eine Antwort darauf sein? Alles ist zu wenig, alles zu aussichtslos. Die letzte Verantwortung liegt doch bei Horthy und seinen Gefolgsleuten, die diesen Geist, dem alles andere mit unerbittlicher Folgerichtigkeit entsprang, wachsen und gedeihen ließen. Aber die Verantwortung löst nichts, die Rache bringt nichts zurück.
    Das Jahr ist vorbei. Kann man noch ein solches Jahr ertragen? Oder verzieht sich der Sturm nach Westen und lässt uns inmitten der Leichen und Trümmer zurück, umherirrend auf dem Müllhaufen, den uns die Führer des »christlich-nationalen« Ungarn und ihre Henkersknechte vererbt haben? Ich weiß nichts.
    Wer weiß schon, was sich hinter dem »J’ai vécu« eines Abbé von Sieyès verbirgt? Das weiß nur einer, der es selbst erlebt hat.
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Nachwort
    M it diesem ersten Band beginnt der Piper Verlag die Edition sämtlicher Bände der »ungekürzten und sorgfältig überprüften« Tagebücher Sándor Márais.
    Das dieser Übersetzung zugrunde liegende Original A teljes napló (Das vollständige Tagebuch) ist eine komplette kritische Ausgabe der Márai-Tagebücher im Helikon Verlag, Budapest. Sie wurde möglich, nachdem im Jahr 1997 sämtliche, teilweise handschriftlichen, Aufzeichnungen Márais von der Vörösváry Publishing Company in Toronto dem Petőfi-Literaturmuseum in Budapest überantwortet worden waren. Der ungarische Helikon Verlag hat es sich zur Aufgabe gemacht, die von kompetenten Wissenschaftlern aufbereitete vollständige Edition in einer heute noch nicht endgültig feststehenden Zahl von Bänden zu veröffentlichen.
    Dies vorauszuschicken scheint mir deshalb wichtig, weil schon vor mehreren Jahren beim Oberbaum Verlag in Berlin einige Bände der Tagebücher, allerdings nur mit einer Auswahl von Texten, erschienen sind, darunter der besonders berührende letzte Band 1984 – 1989 (auch als Taschenbuchausgabe des Piper Verlags).
    Vielleicht fragen sich manche Leser, wie der Márai-Nachlass überhaupt nach Toronto gelangen konnte, da der Autor doch zuletzt als Emigrant
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