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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer
Autoren: Sándor Márai
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pathologisch ist. Es gibt nur eine Möglichkeit, wie ich zu mir kommen kann: indem ich meine letzte Kraft, meinen verbleibenden Willen zusammennehme und zu arbeiten beginne.
    Babits’ Buch über die europäische Literatur sagt nichts Neues; jedenfalls habe ich nicht das Gefühl, etwas »dazugelernt« zu haben. Menschen eines bestimmten Fachs, in einer bestimmten Zeit haben das gleiche Wissen. Was mich überzeugt, ist die Perspektive des Buches: Babits glaubt an einen übernationalen Geist, für ihn bildet die Weltliteratur eine Einheit, bewegte Homer, Dante, Shakespeare und Goethe der gleiche Impuls. Und das kann man heute, da es ein einheitliches Europa – wie noch zur Zeit der lateinischen und der französischen Kultur – nicht mehr gibt, sondern nur eine tragische Spaltung in Nationen, nicht oft genug wiederholen und belegen.
    Ein Versprecher, an dem Freud seine Freude gehabt hätte:
    Ich unterhalte mich – sehr müde – mit jemandem über die jüngsten Regierungsverfügungen und frage: »Und wer soll diese letztwillige Verfügung vollstrecken?«
    Es lohnt sich, in diesen Tagen, da Geld nichts wert und jedes Kilo Kartoffeln, jedes Pfund Mehl, jede Ofenladung Brot lebensnotwendig ist, das schäbige, leisetreterische Hamstern der Bekannten zu beobachten. Wie sie um jeden Preis ihren Teil haben wollen, wenn es uns gelungen ist, etwas zu ergattern, wie sie uns aber lamentierend bei der Verteilung vergessen, wenn sie sich irgendein Lebensmittel unter den Nagel gerissen haben … Dieses verlogene, heuchlerische: »Wir wussten nicht, dass ihr das braucht!« … so durch und durch hinterlistig; als verweigerte man einem Sterbenden den Sauerstoff.
    Aber auch das ist natürlich; sie sind Menschen. Ein Grund mehr, bis zum letzten Bissen ehrlich mit allen zu teilen, die wirklich nichts haben und darauf angewiesen sind.
    Der Mensch ist kein »wildes Tier«. Er ist etwas viel Schlimmeres. Ein Mensch.
    Lob des Gemeinplatzes.
    Gemeinplätze, wenn sie wirklich allen gemein und an ihrem Platz sind: halten die wankenden Nebeltürme des Geistes im Gleichgewicht.
    Das wahre Wesensmerkmal der Souveränität ist für mich die Geduld. Wenn sich jemand dem Furcht einflößenden und großartigen Schauspiel der Welt geduldig stellt. Wenn er Schrecklichem wie Freudigem geduldig begegnet. Diese Geduld kann nur die Bildung vermitteln. Nicht unbedingt die Bildung durch Wissen; manchmal auch nur die Herzensbildung. »Nur? …« Sie ist wahrscheinlich mehr als jede verstandesmäßige Bildung.
    Der Nachmittag vor Weihnachten . Vor jenem Weihnachten , das der Sprecher des englischen Rundfunks in den Nachmittagsnachrichten als das »tragischste Weihnachten der ungarischen Geschichte« bezeichnet. Er hat recht, das ist es in der Tat.
    Wir hier verbringen Weihnachten an der Front, unter unwirklichen, phantastischen Umständen. Gleich gegenüber liegt Vác, dort sind die Russen; niemand weiß genau, wie das Leben dort ist – aber man hört über der Donau die Glocken von Vác. Aus der Richtung von Fót heftiges Kampfgetöse; das Gefecht tobt schon seit zwei Tagen. Am Vormittag hole ich Wasser, dann sammle ich Reisig. Am Nachmittag unternehme ich in der großen Stille, die auch das Geschützfeuer nicht stört – eher nur mit monotonem Ernst füllt –, einen Spaziergang nach Tahi. Die Landstraße ist wie ausgestorben. Tahi wird ab und zu vom Vácer Ufer beschossen. Am Wegesrand überall verschneite Schützengräben, leer wie Massengräber. Die Landschaft harrt des Krieges, der schon da ist, nicht nur »nah«, sondern da. Sie ist keine Landschaft mehr, sondern »Kriegsschauplatz«, auch offiziell.
    Ich habe diese Landschaft in ihrem Frühlings-, Sommer- und Herbstgewand gesehen; und jetzt habe ich sie in winterlicher Nacktheit vor mir, mit den Narben der Schützengräben an ihrem Körper. Ich habe sie strahlend, reif, üppig, versöhnt gesehen. Jetzt ist sie ernst und knochig, voll stummen Schicksals.
    Gegen Abend Stromausfall, wie so oft in diesen Tagen; eine Granate oder Bombe hat irgendwo die Leitung zerrissen. Bis sie repariert wird, sitze ich im Dunkeln; das Petroleum ist uns ausgegangen, mit den wenigen Kerzen müssen wir sparsam umgehen.
    Es ist gar nicht so schlecht, am Vorabend von Weihnachten so im Dunkeln zu sitzen. Gegen Abend verstärkt sich das Geschützfeuer. Mir wird plötzlich klar, warum ich Die Schwester – neben diesem Tagebuch mein einziges geistiges Unterfangen in diesem Jahr, das vor einigen Monaten kläglich entschlummert
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