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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer
Autoren: Sándor Márai
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zweckmäßig handelt. Das ist der ewige Irrtum der großen Realisten. Damit etwas Entscheidendes und Wesentliches geschieht, bedarf es jenseits des rationalen Handelns der dämonischen Ausstrahlung einer Menschenseele, jenes geheimen, jedes Hindernis überwindenden Überschusses an Charakter, in dem der wahre Sinn jeder großen Tat liegt.
    Seit sechs Tagen bebt alles, die Landschaft, das Haus, der Garten, die Wälder. Die Russen stehen in Vác und Gödöllő, die Deutschen im benachbarten Szentendre. Erst zu später Nachtstunde hören das Geschützfeuer und die Luftangriffe für eine kurze Weile auf. Das alles geschieht im Umkreis von einigen Kilometern. Im Keller waren wir noch nicht, ich weiß gar nicht, warum. Das ist eine Frage des Instinkts. Strom ist mal vorhanden, mal nicht; die Leitungen werden ab und zu von Bomben zerrissen; wenn das Geschützfeuer abebbt, werden sie repariert. Sobald die Russen die Insel Szentendre überqueren und unser Ufer ins Kreuzfeuer gerät, können wir nicht mehr hier im Haus bleiben, dann müssen wir in die Wälder hinaufgehen.
    L . backt und kocht. Endlich ist sie in ihrem Element; sie kann Menschen versorgen, sich der ältesten aller Tätigkeiten widmen. Luftangriffe und Geschützfeuer kümmern sie nicht. Endlich weiß sie, was ihr ureigenstes Element ist. Ich wusste es bisher allerdings auch noch nicht.
    Heute ist der dreizehnte Dezember, Lucia-Tag . Wer auf einen Stuhl steigt, sieht die Zukunft.
    Man muss gar nicht auf einen Stuhl steigen, es genügt, sich ans Fenster zu stellen. Vor dem Fenster, am gegenüberliegenden Donauufer, wütet der Krieg. Das ist die Gegenwart, aus der notwendigerweise die Zukunft folgen wird. Im Detail lässt sich nichts vorhersagen, aber die Struktur einer Zukunft, die auf solchen Voraussetzungen aufbaut, sind unschwer zu erraten. Die Zerstörung wird zum Elend führen, auf lange Sicht; dann werden sich die Schichten der erschütterten Gesellschaft langsam wieder setzen. Vieles wird natürlich davon abhängen, wie groß die Erschütterung war. Eine alte Regel besagt, dass eine Revolution nur so viel wert ist, wie es ihr gelingt, die brauchbaren Werte aus der Vergangenheit hinüberzuretten.
    Diese hochgeborenen Herren der Mittelklasse, die angesichts von Malinowskis Truppen auf einmal ihre antifaschistischen Gefühle entdecken, täuschen sich sehr, wenn sie meinen, durch einige deutschfeindliche Bemerkungen in vertrautem Kreis oder durch zwischenzeitliches Fernbleiben aus dem von den Pfeilkreuzlern besetzten Amt jene Verantwortung, die aus dem Sündenberg des untergegangenen Regimes auf ihnen persönlich lastet, abgebüßt zu haben.
    Kollektive Vorwürfe sind immer ungerecht; deshalb wird es nicht schaden, mit jedem persönlich abzurechnen. Niemand hat etwas Unmögliches von ihnen verlangt. Sie sollen nur auf die Frage antworten: Wann und womit haben sie jenen geholfen, die vor zehn, zwanzig Jahren mit gerechten und angemessenen Mitteln versucht haben, ein demokratisches Ungarn aufzubauen? Diese Abrechnung wird unangenehm sein.
    Ein Sprecher der Pfeilkreuzler verspricht im Radio mit krächzender Stimme die Vernichtung Budapests und fordert die Bevölkerung auf, »nicht sentimental zu sein und alles zu ertragen, was die Bevölkerung der zerstörten ungarischen Städte schon ertragen musste«.
    Eine vertraute Stimme. Die ekstatische Stimme eines geistesgestörten Amokläufers. Diese Leute brüllten so lange mit dieser Stimme, bis das Land dort war, wo es heute ist.
    Mir fällt zufällig Petit Nozière von France in die Hände, in der hervorragenden Übersetzung von Gyula Szini. (Wie wenig hat es dieser edle, reine Schriftsteller Szini verdient, in Vergessenheit zu geraten!)
    Aber auch France ist in Vergessenheit geraten. Man darf seinen Namen in höheren literarischen Kreisen gar nicht aussprechen. Er ist zu Unrecht vergessen, denn auch wenn er seine Aufgabe diesmal mit leichter Hand angeht, kann ich mich, da ich ihn nach Langem wieder lese, der zärtlichen Anmut, die mir von jeder Seite dieses Buches entgegenschlägt, nicht entziehen.
    Was einem die Welt auch zeigt, immer auf die einzig mögliche Art reagieren: höflich und gleichgültig.
    Jugend. Ich bin in diesen Tagen ab und zu unter Zwanzigjährigen.
    Ich gebe mir Mühe, sie unparteiisch und unvoreingenommen zu beobachten. Wie sind sie? Sie kichern viel, aber sie haben keinen Humor. Zynisch sind sie nicht, nein. Aber sie sind auch nicht begeisterungsfähig. Sie brummen eher vor sich hin,
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