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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer
Autoren: Sándor Márai
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Solchen Dingen hetzen sie hinterher.
    Ein Kilo Brot kostet schwarz zehn bis fünfundzwanzig Pengő. Was hat der »Weihnachtsmarkt« in den Budapester Schaufenstern noch zu bieten? Die Glaswarengeschäfte verkaufen noch ein paar Glasgegenstände, Läden mit Nippes kleine Schnitzereien, Häkeleien; in den Drogerien, Gemischtwarenläden bekommt man nichts mehr. Auch Äpfel und Früchte sind seit einigen Tagen »gesperrt«. Es gibt zu Weihnachten in ganz Budapest keine Äpfel, keine Walnüsse mehr. In einem Restaurant bekomme ich einen Teller Makkaroni, da der Besitzer ein Literaturliebhaber ist. Die Apotheken wurden aufgerufen, innerhalb von achtundvierzig Stunden ihre Bestände zu melden, »Überschüssiges« soll ins Ausland, »in Sicherheit« gebracht werden … Auch die Ärzte werden ins Ausland, »in Sicherheit« gebracht, wie überhaupt alle, die sie erwischen und die sich noch auf den Beinen halten können. Nur zweihundertzwanzig Ärzte dürfen in Budapest bleiben, ohne Medikamente; für anderthalb Millionen hungernde, frierende Menschen.
    Auf den Straßen vereinzelte Pferdekadaver, mit Packpapier abgedeckte Leichen. Ich bin zu Besuch bei T .; Fremde gehen bei ihm ein und aus, frühere Sympathisanten der Deutschen, die sich durch diese Besuche ein Alibi verschaffen wollen, so T . In der Stadt geht das Gerücht, die Deutschen hätten im Westen eine große Gegenoffensive gestartet. Die Stadt ist wie ein Sterbender, der bis zum Morgen noch nicht sterben konnte; der Arzt untersucht ihn und sagt nur, dass es noch zu früh sei, die Verwandten auf dem Land telegrafisch zu benachrichtigen; die Agonie könne noch eine Weile dauern.
    Die kurze Reise ist lebensgefährlich im wahrsten Sinn des Wortes. Die Vorortzüge sind unglaublich überfüllt, schon der kleinste Unfall würde alle das Leben kosten, die in den Wagen eingeklemmt sind. Unterwegs hält der kleine Zug immer wieder an, die Flugabwehrkanonen dröhnen, über uns russische und englische Flugzeuge. Im Wagen schweigen alle, viele halten sich mit einer einfältigen Schutzgeste irgendein Gepäckstück vors Gesicht.
    Es »droht« kein Hunger mehr, er ist schon da, mitten im Zimmer. In den Zeitungen phantastische Annoncen: Jemand bietet Mehl für ein Paar Stiefel Größe fünfundvierzig, ein anderer Zucker, Fotoapparat, Bruchgold für Kartoffeln, wieder ein anderer Herrenkleidung für Brennholz. Das ist gar kein Ausverkauf mehr, das ist der völlige Zerfall; hier steigert sich die Angst zur Panik.
    Babits’ Geschichte der Weltliteratur berichtet von einem Erlebnis: vom Erlebnis Weltliteratur. Die Geschichte der Weltliteratur, wie sie Ribbeck und all die anderen Ribbecks erzählen, berichtet über Schriftsteller und Bücher; deshalb ist Babits’ Buch spannend, sind die Bücher der Ribbecks langweilig.
    Am Anfang der Weltliteratur, so Babits, steht ein Wort des Affekts: »Singe den Zorn, o Göttin!«, heißt es in der ersten Zeile der Ilias . Am Anfang jeder großen menschlichen Unternehmung steht ein Wort oder eine Regung des Affekts; der Verstand hinkt diesem furchterregenden Wort, dieser furchterregenden Geste nur hinterher.
    Ich habe meine gute, alte englische Pfeife gefunden. So warte ich beim leisen Pfeifengeräusch und dem dröhnenden Geschützlärm auf Weihnachten und das Schicksal.
    Nachts in der Wohnung lese ich Gides Nouvelles Nourritures . Ich glaube, ich bin ein guter Leser: treu, willig, empfänglich, aufmerksam. Aber wir werden keine Freunde, Gides Buch und ich, der Leser. Mich stört wieder die Absicht … es gibt keine größere Sünde, kein größeres Hindernis als die Absicht des Schriftstellers, bewusst spontan zu sein. Diesen Steilhang hinauf kann ich ihm nicht folgen.
    Ich notiere, dass mein Tabaktrafikant – in einer Zeit, in der Tabakwaren Gold wert sind und für alles, auch Lebensmittel eingetauscht werden können –, ohne dass ich ihn darum gebeten hätte, meinen Aktenkoffer zu Weihnachten mit Tabak und Zigaretten vollgestopft hat. Als ich dagegen protestiere und ihn bitte, den »Schwarzmarktpreis« dieser Schätze anzunehmen, lehnt er energisch und beleidigt ab. Dieser Trafikant hat Charakter; und das sage ich nicht nur so. Er ist wirklich ein Mann von Charakter.
    Nachts Bomben auf Leányfalu. Die Druckwelle lässt das Haus erbeben. Ich schlafe tief und erschöpft, wache nicht auf; erst am Morgen höre ich, dass nachts das explosive Schicksal ums Haus geschlichen ist.
    Meine Erschöpfung ist schon krankhaft. Eine Depression, die zweifellos
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