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Tagebuch der Lust

Tagebuch der Lust

Titel: Tagebuch der Lust
Autoren: Ava Pink
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der in West Point eine militärische Karriere anstrebte. Meine anderen Geschwister ließen sich aus verschiedenen Gründen entschuldigen, jedoch war ich ihnen nicht böse. Die Vermählung mit einem ungeliebten Menschen war kein Grund für ein Familientreffen. Mein Bruder und Caleb unterhielten sich angeregt, während ich, in Gedanken versunken, mit meinen Neffen spielte.
    „Schon bald wirst du eigene Kinder haben“, sagte meine Schwester und streichelte mir übers Haar. „Du wirst sehen, danach wird das Leben als Ehefrau erträglicher.“
    Ich lächelte matt. Sie hatte mich durchschaut, und ich war dankbar, dass wir das Thema nicht vertieften, denn sonst wäre ich augenblicklich in Tränen ausgebrochen.
    Caleb sprach den ganzen Tag kein Wort mit mir, auch nicht während des Abendessens, obwohl wir direkt nebeneinander saßen. Danach zog er sich mit meinem Bruder für einen Drink in den Salon zurück, und ich verblieb bei meiner Mutter und Schwester. In dieser Nacht tat ich kein Auge zu. Unruhig wälzte ich mich im Bett hin und her. Meine Gedanken ließen sich einfach nicht abstellen, genauso wenig, wie die bleierne Angst, die mir die Kehle zuschnürte. Der einzige Ausweg aus dieser Situation wäre ein Strick gewesen, den ich mir um den Hals gelegt hätte. Aber dazu war ich zu feige und hing außerdem an meinem Leben. Nur noch wenige Stunden trennten mich von meiner ganz persönlichen Hölle, die mir gleichzeitig ein neues Leben und eine neue Seite an mir offenbaren sollte. Doch davon wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Hätte ich es getan, wäre mir der kommende Tag vielleicht nicht ganz so schwarz vorgekommen.
    Meine Mutter, meine Schwester und das Dienstmädchen kamen am frühen Morgen des nächsten Tages ohne Vorwarnung in mein Zimmer gestürmt und halfen mir, mich zurecht zu machen. Ich blinzelte verschlafen, war ich doch erst vor wenigen Augenblicken eingenickt, nachdem ich die ganze Nacht wach gelegen hatte. Eilig zog meine Mutter die schweren Vorhänge an den Fenstern auf und ein wunderschöner Morgen mit viel Sonne begrüßte mich. Es würde ein herrlicher Tag werden, wenn mein Herz nur nicht so traurig gewesen wäre. Das Dienstmädchen bereitete mir ein Bad, gleichzeitig suchte meine Mutter nach dem passenden Schmuck, welchen ich bei der Trauung tragen sollte, und meine Schwester bürstete mein Haar. Ich ließ das alles über mich ergehen. Geistesabwesend und nicht bereit, den kleinsten Funken Freude zu verspüren. Sie plapperten ohne Unterbrechung, während das schwarze Dienstmädchen still ihre Pflicht tat. Nachdem ich sorgfältig gebadet war, setzte ich mich an den Frisiertisch und sogleich waren wieder helfende Hände zur Stelle. Mein rotes Haar wurde zu kleinen Korkenzieherlocken aufgedreht und anschließend hochgesteckt. Meine Mutter ließ es sich nicht nehmen, mir das steife Korsett persönlich zu binden, und ich wusste, was dies bedeutete. Meine Taille würde zwar schlank wie die einer Wespe sein, aber an freies Atmen war nicht mehr zu denken. Ich keuchte, als sie an den Schnüren zog und jedes nicht vorhandene Gramm Fett einschloss, sodass mein Busen nach oben geschoben wurde und einen atemberaubenden Anblick bot. Dann wurde ich fürs Erste in Ruhe gelassen, und man brachte mir ein kleines Frühstück. Mit dem Korsett an meinem Leib war es mir kaum möglich, einen Bissen zu essen, doch genau darin lag für mich der Sinn dieses Foltergerätes. So begnügte ich mich mit einem Glas Orangensaft und etwas Obst, bevor ich in meinem Sessel zurücksank und die Augen schloss.
    Ich dämmerte ein und dachte an vergangene Tage. Wie ich mit meinem Vater über die Felder ritt, durch die Wälder, bis zu dem See, der an unser Grundstück grenzte. Wie wir unsere Angeln ins Wasser warfen und den Sonnenschein genossen. Wenn wir abends nach Hause zurückkehrten, spielten wir eine Partie Schach oder lauschten meiner Schwester, die so wunderschön Klavier spielte. An manchen Tagen tanzte ich mit meinem zweitältesten Bruder ausgelassen durch den Raum und meine Eltern lachten herzhaft. Plötzlich fielen mir auch die unzähligen Weihnachtsabende ein, die wir stets im Kreise der Familie verbrachten. Mein Vater las uns jedes Jahr Weihnachtsgeschichten vor, meine Mutter tat die letzten Stiche an einem Gobelin, um ihn uns danach zu präsentieren, und an Neujahr mit einem neuen zu beginnen. Meine Schwester und ich backten Weihnachtskekse und verwandelten dabei die Küche in ein Schlachtfeld, sodass die Köchin danach
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