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Tagebuch der arabischen Revolution (German Edition)

Tagebuch der arabischen Revolution (German Edition)

Titel: Tagebuch der arabischen Revolution (German Edition)
Autoren: Karim El-Gawhary
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einmarschieren ließ. Und dann war plötzlich mit Bin Laden eine Art Robin-Hood-Figur da, ein Rächer, einer, der vermeintlich etwas unternahm. Blutig zwar, aber da war jemand, der es aller Welt einmal so richtig zeigen konnte. Militante Konzepte bekamen in dieser Zeit Hochkonjunktur. Als das ägyptische Ibn-Khaldun-Forschungszentrum 2006 die Ägypter nach den ihrer Meinung nach wichtigsten Politikern fragte, rangierte der Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah wenige Monate nach dem Libanon-Krieg auf Platz eins, vor dem iranischen Präsidenten Ahmadinedschad und dem Hamas-Chef Khaled Maschaal, gefolgt von Bin Laden. Mubarak lag damals bereits abgeschlagen auf Rang 18. Vier Jahre später, 2010, bei einer Meinungsumfrage der Brookings Institution, die alle Jahre wieder versucht, die arabische Gefühlslage zu erkunden, rangierte Bin Laden „nur“ noch auf Platz sieben.
    Mit den arabischen Revolutionen in Tunesien und Ägypten blieb das Publikum für Bin Laden dann endgültig aus. Bin Laden befand sich im freien Fall und starb bereits den politischen Tod. Der Grund dafür ist einfach: Die einst politisch Ohnmächtigen hatten sich auf dem Tahrir-Platz in Mächtige verwandelt und das mit einer Methode, die geradezu als Antithese zum heiligen Krieg à la Al-Kaida zu verstehen ist. Mit friedlichen Mitteln sorgten sie für eine umwälzende Veränderung. Selbst im Jemen, einer der Hochburgen Al-Kaidas, waren die Proteste von seiten der Demonstranten monatelang friedlich geblieben. In einem Land, in dem es mehr Waffen in privaten Händen als Einwohner gibt und in dem jeder seine Kalaschnikow im Schrank hängen hat, grenzte das an ein Wunder. Menschen gingen in Sanaa friedlich auf die Straße und wurden von Scharfschützen des Regimes erschossen, und am nächsten Tag kamen sie wieder auf die Straße – erneut ohne ihre Waffen. Hand aufs Herz: Was würden Sie, lieber Leser, liebe Leserin, unternehmen, wenn neben Ihnen auf einer Demonstration ein Bruder, eine Schwester, Kinder oder Freunde erschossen werden, und Sie haben ein geladenes Schnellfeuergewehr im Haus? Friedlich demonstrierende Jemeniten, das ist ein unglaublich bewusster Schritt, den man gar nicht überbewerten kann und der auf dem Tahrir-Platz und in Tunesien seinen Anfang fand. Fakt ist: Bin Laden war bereits auf dem Tahrir-Platz in Ägypten gestorben, bevor er von den US Navy Seals in Pakistan umgebracht wurde. Die militanten Islamisten sind als Konzept zumindest in die Ecke gedrängt.
    Feindliche Übernahme durch Islamisten?
    Was aber geschieht mit den moderaten Islamisten, jenen, die versuchen, durch einen Marsch durch die Institutionen an die Macht zu kommen, wie etwa die Muslimbrüder in Ägypten? Eines ist sicher: Die arabischen Revolutionen haben die Mär von den Islamisten als einziger Alternative Lügen gestraft. Die neue arabische Welt ist wesentlich pluralistischer und komplexer. Die neue Grundlinie „keine politischen Monopole mehr“, spricht gegen eine islamistische Machtübernahme.
    Aber Gruppierungen wie die Muslimbrüder sind auch nicht zu unterschätzen. In der unmittelbaren Nach-Mubarak-Zeit waren sie die einzige wirklich organisierte politische Gruppierung. Andere waren im Entstehen, aber brauchen Zeit. Durchaus berechtigt ist also die Sorge, dass die Islamisten diesen ihnen gegebenen Vorsprung nutzen und vor allem ein gewichtiges Wörtchen bei der Ausarbeitung der neuen ägyptischen Verfassung mitreden könnten.
    Aber Ägyptens Islamisten sind nicht statisch und unbeeinflusst von der Revolution, und sie sind kein homogener Block. Sie sind sich alles andere als einig, wie es weitergehen soll. Mahmud Ezzat, der zweite Mann der Muslimbruderschaft, sorgte für Furore, als er im April 2011 erklärte, dass seine Gruppierung in Ägypten einen islamischen Staat errichten und langfristig Scharia-Strafen einführen wolle. Danach geriet er nicht nur bei den offensiv auftretenden Säkularisten, sondern auch in den eigenen Reihen in die Kritik. Vor allem die Jugend der Muslimbrüder, die die Revolution am Tahrir-Platz mitgetragen hatte, widersprach energisch. „Diese Ideen vom islamischen Staat und den Scharia-Strafen sind weit entfernt von unserem neuen Denken. Manche der älteren Muslimbrüder reden immer noch von Dingen, die wir längst überwunden haben“, meinte der junge Muslimbruder Mohammed Nur. Auch einer seiner jungen Kollegen äußerte sich skeptisch über Teile der Führung. „Sie glauben, alle Islamisten müssten an einem Strang
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