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Tagebuch der arabischen Revolution (German Edition)

Tagebuch der arabischen Revolution (German Edition)

Titel: Tagebuch der arabischen Revolution (German Edition)
Autoren: Karim El-Gawhary
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seit fünf Monaten außerhalb Kairos in Madina El-Salam in einem Zeltlager gelebt: Man hatte ihnen 900 Wohnungen versprochen, die Anfang Juni 2011 hätten übergeben werden sollen. Stattdessen wurden die Wohnungen von der Stadt an andere Leute vergeben. „Statt in einem Zeltlager am Rande der Wüste zu schlafen, kann ich auch genausogut mein Zelt hier in der Innenstadt aufstellen und alle auf unseren Fall aufmerksam machen“, erklärte einer der Demonstranten. Dieser Protest war symptomatisch für eine wachsende soziale Bewegung, die sich nichts mehr gefallen lassen will.
    Seit dem Sturz Mubaraks wurden in Ägypten 33 unabhängige Gewerkschaften gegründet. Es wurde darüber debattiert, eine Gewerkschaft der Arbeitslosen ins Leben zu rufen, Forderungen wurde immer lauter, einen Mindestlohn von – lieber Leser, liebe Leserin, jetzt bitte festhalten – monatlich 140 Euro festzuschreiben. Das wäre eine Errungenschaft in Ägypten.
    Oft wird darüber geredet, dass die gut gebildete Facebook-Jugend die Revolution getragen habe. Dabei vergisst man leicht, dass Mubarak auch von einer massiven Streikbewegung in Bedrängnis gebracht wurde, fernab des Tahrir-Platzes, an Orten wie etwa der Textilarbeiterstadt Mahalla Al-Kubra im Nildelta. Es waren die Menschen aus den Armenvierteln, die auf die Straße gegangen sind, furchtlos gegen die Polizei gekämpft und während der Revolution den höchsten Preis an Toten und Verletzten bezahlt haben. Es ist diese Unterschicht, die bisher von der Revolution am wenigsten profitiert hat. Sie wird sich immer lauter zu Wort melden.
    Die Kräfte der Konterrevolution
    Es gibt viele Interessen, die das ägyptische Modell zum Scheitern bringen wollen. Da ist die alte Elite, die ihre Pfründe nur im alten, intransparenten System sichern kann. Es sind jene, die viel zu verlieren haben, wenn das Prinzip der politischen und wirtschaftlichen Rechenschaft eingeführt wird.
    Aber auch in der arabischen Welt insgesamt gibt es Kräfte, die einen Erfolg der ägyptischen Revolution um jeden Preis verhindern wollen, schon allein, um nicht selbst als nächstes auf der Liste zu stehen. Das gilt vor allem für die finanzstarken Golfstaaten, allen voran Saudi-Arabien. Die Lage in Ägypten bietet eine Menge Schwachstellen, an denen diese Kräfte ansetzen können.
    Da ist allen voran die wirtschaftliche Lage. Allein der Bereich des Tourismus hat Schätzungen zufolge in der Zeit nach dem Sturz Mubaraks tägliche Verluste von 40 Millionen Dollar verzeichnet. Eine Katastrophe in einem Land, in dem jeder zehnte Arbeitsplatz direkt oder indirekt vom Tourismus abhängt. Dazu kam der Faktor der ausländischen Investitionen, die praktisch vollkommen eingefroren wurden. Die ägyptische Wirtschaft kam vielerorts zum Stillstand. Schon zu Mubaraks Zeiten mussten vier von zehn Ägyptern mit etwas mehr als einem Euro am Tag auskommen. Die Revolution hat die ökonomische Lage vieler Haushalte also noch verschlechtert. Eine Revolution, oder besser gesagt, den langen Atem dafür, muss man sich leisten können. So mancher Ägypter forderte ein Ende der Proteste und der Streiks, die den Wandel weitertreiben wollten, in der Hoffnung auf eine unbestimmte Rückkehr zur „Normalität“. Es entstand eine Stimmung, die sich Vertreter des alten Regimes zunutze zu machen versuchten, um aufzuhalten und zu bremsen. Selbst in Kreisen internationaler Handelskammern wurde immer wieder der Vorwurf laut, dass einige einst regimenahe Unternehmer ihre Fabriken absichtlich geschlossen hielten, um das Volk zu zermürben.
    Ähnliches gilt für die Sicherheitslage. Vielerorts hatte sich die Polizei aus dem Straßenbild vollkommen abgemeldet. War Kairo zu Mubaraks Zeiten weltweit eine der Megastädte mit der geringsten Kriminalitätsrate, hatte sich das schlagartig geändert. Als das Auto eines Bekannten am helllichten Tag mitten in Kairo gestohlen wurde und er zur örtlichen Polizeiwache ging, fand er dort niemanden vor, bei dem er den Vorfall zur Anzeige hätte bringen können. Während er umsonst wartete, blätterte er in alten herumliegenden Polizeiakten. Das war kein Einzelfall. Viele fühlen sich in ihrer Sorge um die Sicherheit ihres Eigentums und ihrer Familien vollkommen alleingelassen. Tahrir-Aktivisten wie der junge Psychologe Mustafa Hussein werfen dem Innenministerium vor, sich in Kriminalitätsfällen absichtlich rar zu machen, in der Hoffnung eine Stimmung zu schüren, die wieder nach einem starken Polizeiapparat ruft. Wenn die
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