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Tage der Freuden

Tage der Freuden

Titel: Tage der Freuden
Autoren: Marcel Proust
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schmerzlich zusammen und sagte sanft: »Bitte, versprechen Sie nichts! Sie müssen ein Versprechen halten, wenn Sie es einem Sterbenden gegeben haben. Wenn Sie Ihrer nicht sicher sind, versprechen Sie nichts!«
    »Ich kann es Ihnen nicht versprechen, ich habe ihn seit zwei Monaten nicht gesehen und werde ihn vielleicht nie wiedersehen; ich werde mich in Zeit und Ewigkeit nicht darüber trösten können, daß ich nicht auf diesem Ball war.«
    »Sie haben recht, da Sie ihn lieben, da man sterben kann … und da Sie noch in Ihrer ganzen Jugendkraft leben … Aber – doch sollen Sie etwas für mich tun; von der Zeit, die Sie auf diesem Ball verbringen, sparen Sie für mich die Minuten ab, die Sie, um nicht aufzufallen, mit mir dort hätten verbringen müssen. Laden Sie meine Seele ein, ein paar Augenblicke Ihrer zu gedenken, und ich bitte Sie um einen Gedanken an mich.«
    »Ich wage kaum, es Ihnen zu versprechen, der Ball ist so kurz. Ich will ihn nicht einen Augenblick verlassen, kaum reicht die Zeit für mich, ihn zu sehen. Ich werde Ihnen an allen folgenden Tagen einen Augenblick schenken.«
    »Sie können es nicht, Sie werden mich vergessen; aber wenn … nach einem Jahr, oder vielleicht schon früher, ein trauriges Buch, ein Regenabend Sie an mich erinnert, welche Wohltat würden Sie mir damit erweisen. Ich werde Sie nie, nie mehr wiedersehen können … nur in meiner Seele, und dann müssen wir in der gleichen Minute aneinander denken. Ich werde immer an Sie denken, damit die Tore meiner Seele Ihnen immer offenstehen, wenn Sie eintreten wollten. Aber wird die Erwartete lange auf sich warten lassen? Die Blumen auf meinem Grabe werden im Novemberregen verfault sein, und der Juni wird sie verbrannt haben, und noch immer wird meine Seele vor Ungeduld weinen. Ach, ich hoffe, daß eines Tages der Anblick eines Erinnerungszeichens oder die Wiederkehr eines Jahrestages oder der natürliche Fluß Ihrer Gedanken Ihr Gedächtnis in die Nähe meiner Zärtlichkeit leiten wird. Dann wird es sein, als hätte ich Sie gehört, erblickt, eine Zauberhand wird rings Blumen streuen, um Sie zu empfangen. Denken Sie an den Toten. Aber ach! Wie kann ich hoffen, daß der Tod und Ihr Ernst das fertig bringen, was das Leben mit seinen Gluten, was unsere Tränen und unsere guten Einfälle, was unsere Lippen nicht vermocht haben.«
V
»Sieh hier das edle Herz, das
bricht.«
     
»Gut Nacht, du liebenswerter Prinz!
Mögen Schwärme von Engeln unter
himmlischem Gesang deinen Schlaf in
Ruhe wiegen!«
     
Shakespeare, Hamlet
     
    Ein heftiges Fieber, von Delirien begleitet, verließ den Freiherrn nicht mehr; man hatte sein Bett in dem großen runden Gemach untergebracht, in welchem Alexis den Kranken an seinem dreizehnten Geburtstage gesehen hatte; damals war er noch so lustig gewesen. Von hier aus konnte er gleichzeitig auf das Meer und die Hafenmole und von der andern Seite her auf die Wiesen und Wälder blicken. Manchmal begann er zu sprechen, aber seine Worte trugen nicht mehr das Siegel der hohen Gedanken, die ihn während der letzten Wochen heimgesucht und geläutert hatten. Unter gewaltigen Verwünschungen gegen ein unsichtbares Wesen, das seiner spottete, wiederholte er ununterbrochen, er sei der größte Tonkünstler des Jahrhunderts und der mächtigste Grandseigneur der ganzen Welt. Dann, plötzlich beruhigt, befahl er seinem Kutscher, ihn in eine Kneipe zu führen oder seine Pferde zur Jagd zu satteln. Er bat um Schreibpapier, um alle Machthaber Europas zu seiner Hochzeit mit der Schwester des Herzogs von Parma zu Tisch zu laden; er war außer sich vor Schreck, weil er eine Spielschuld nicht begleichen konnte, er nahm das neben seinem Bett liegende Papiermesser und zückte es gegen sich, wie einen Revolver. Er sandte Boten aus, um sich zu erkundigen, ob der Schutzmann, den er in der vergangenen Nacht niedergeschlagen hatte, nicht gestorben sei, und rief lachend einer Person, deren Hand er zu halten glaubte, unzüchtige Worte zu. Die mächtigen, wachehaltenden Engel, die man Wille und Gedanke nennt, waren nicht mehr da, um die bösen Geister seiner Sinnlichkeit und die schmutzigen Dünste seines Gedächtnisses in den Schatten zurückzuzwingen. Nach drei Tagen erwachte er gegen fünf Uhr wie aus einem bösen Traum, für den man nichts kann, dessen man sich aber dumpf erinnert. Er erkundigte sich danach, ob Freunde oder Verwandte bei ihm gewesen seien in diesen Stunden, in denen er nur dem niedersten Teil seines Selbst, dem ältesten und
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