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Tag der Vergeltung

Tag der Vergeltung

Titel: Tag der Vergeltung
Autoren: Liad Shoham
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und gähnte aus vollem Herzen. Sein Kopf war bleischwer. Vielleicht sollte er sich in dem Café gegenüber, das rundum geöffnet hatte, einen Kaffee holen. Tel Aviv hatte etwas für sich, das gab es anderswo nicht. Schon gar nicht in Chadera. Dennoch würde er hier nicht wohnen wollen. Chadera war zwar nicht mehr die urige Stadt von einst, als die Kinder klein gewesen waren und jeder jeden kannte, doch ging es dort längst nicht so anonym zu wie hier. In letzter Zeit hasste er Tel Aviv regelrecht, den Autolärm, das Chaos, das Gerangel um die Parkplätze, die Taxis, die unverhofft die Spur wechselten, die englischen Schriftzüge über den Schaufenstern.
    Der Schlaf zog an seinen Augenlidern. Nur fünf Minuten, beschloss er, dann würde er sich einen Kaffee holen. Da schreckte er plötzlich aus seinem Sitz auf. An seinem Auto ging ein hochgewachsener, dünner Mann mit Basecap vorüber.
    Auf der Straße war es still. Der Mann lief langsam, sah sich genau nach allen Seiten um, als suchte er etwas. In etwa dreißig Metern Entfernung blieb er stehen und duckte sich mit einer schnellen Bewegung. Jaron streckte sich in seinem Autositz, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren, und konnte zwischen zwei parkenden Autos sein Basecap entdecken. Er warf einen Blick auf die Straße. Auf der anderen Seite ging ein Mädchen mit langem Haar, sie war nicht mehr weit weg.
    War das möglich? War dieser Mann, der gerade hier vorbeigegangen war, der Vergewaltiger? Kreuzte er hier auf, um sich auf das nächste Opfer zu stürzen? Wartete er auf das Mädchen mit dem langen Haar, so wie er vor einem Monat auf seine Adi gewartet hatte? Hockte er deshalb hinter den Autos?
    Was zum Teufel sollte er jetzt tun? Das war die Gelegenheit. Er konnte das Mädchen retten und den Täter fassen. Alles hing von ihm ab.
    Jaron stieg aus dem Auto. Obwohl er alles daransetzte, so leise wie möglich zu sein, durchbrach das Schließen der Autotür die Stille. Er ging in Richtung des Mannes, der auf dem Boden hockte. Und dort immer noch verharrte. Jaron und ihn trennten nur noch wenige Meter. Als der Mann sich plötzlich mit einer flinken Bewegung erhob, den Kopf zu ihm drehte und ihn ansah, stockte Jaron der Atem. Er schaute ihn nur einige Sekunden an, doch er meinte, sämtliche Einzelheiten seines Gesichts erfasst zu haben: das längliche Gesicht, die Adlernase, die schmalen Lippen und vor allem – seine schreckgeweiteten Augen.
    Das Mädchen blickte kurz zu ihnen herüber, ging dann weiter und bog schnell in einen Innenhof ein. Der Mann sah wieder zu ihm, rang offenbar mit sich, was er tun sollte. Ihre Blicke kreuzten sich, Jaron sah ihm in die Augen und wusste es: Dieser Mann hatte Adi vergewaltigt. Es stimmte einfach alles – der Körperbau, das Basecap, die späte Uhrzeit, zu der er sich auf der Straße herumtrieb und sich versteckte, das Mädchen, der Schreck in seinen Augen, als er erkannte, dass ihm einer auf die Schliche gekommen war.
    Über Wochen angestaute Verbitterung schlug in ihm hoch, wollte sich Luft machen, Jaron spürte es. Dieses Ungeheuer war in der Dunkelheit über Adi hergefallen und hatte seinen Trieben freien Lauf gelassen. Seinetwegen saß sie verstört zu Hause und weinte Tag für Tag. Seine schöne, seine süße Tochter, murmelte er vor sich hin. Seine Adinka. Hätte er eine Pistole, würde er ihm eine hübsche Kugel in den Kopf jagen. Er ballte die Fäuste. Wäre er nur einige Jahre jünger, würde er ihn sich vorknöpfen und ihn fertigmachen. Doch jung war er nicht, daher musste er wenigstens clever sein.
    Der Mann entfernte sich von ihm, und Jaron nahm die Verfolgung auf. In ein paar Stunden würde er Eli Nachum anrufen, den Kommissar, der die Ermittlungen in dem Fall leitete, und ihm den Täter auf dem Silbertablett servieren.
    Der Mann entschied sich für eine Seitenstraße. Jaron legte einen Schritt zu. Auf keinen Fall durfte er ihm entwischen.
    Als Jaron in die Straße einbog, war der Mann bereits am anderen Ende. Wieso war er so schnell? War er gerannt? Hatte er mitbekommen, dass er hinter ihm her war?
    Jaron ging noch schneller. Er war außer Atem. Schweiß tropfte ihm von der Stirn, das T-Shirt war schon ganz durchgeschwitzt. Die immense Anspannung der letzten Zeit und der Schlafmangel hatten ihre Spuren hinterlassen. »Du bekommst noch einen Herzinfarkt«, hatte Irith ihn gewarnt. »Oder du wirst vor Übermüdung wahnsinnig.« Er war ja kein junger Mann mehr. Er war sechzig. Ein Großvater, der bereits zwei Enkelkinder
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