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Tag der Vergeltung

Tag der Vergeltung

Titel: Tag der Vergeltung
Autoren: Liad Shoham
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gestalten. An freien Tagen pflanzten sie mit den Kindern im Garten Blumen. Die heutigen Mieter waren alle gut situiert oder die Kinder von gut situierten Leuten. In den Wohnungen fand sich nur das Beste vom Besten. Doch was einen Meter vor der Wohnung los war, kümmerte keinen. Von den Grünanlagen ganz zu schweigen. Deswegen konnte sich der junge Mann mit seinem Hund dieses Verhalten erlauben.
    Langsam erhob sie sich von ihrem Stuhl. Stand sie in letzter Zeit zu abrupt auf, schwindelte ihr einige Minuten. Sie warf einen Blick in die zweite Etage der Louis-Marshall 54. In der Wohnung war es stockdunkel. Vor zwei Tagen hatte sie das Paar dort drüben bei einem Streit beobachtet, seitdem hatte sich der Mann nicht zu Hause blicken lassen. Den ganzen Abend hatte die Frau weinend am Küchentisch zugebracht. Sie hatte Mitgefühl mit den beiden, vor allem mit der netten Frau, die sie immer mit einem »Schalom« und einem herzlichen Lächeln grüßte, wenn sie sich auf der Straße begegneten.
    Sie schlich durch die Wohnung und ging ins Badezimmer. Um ihre Arthritisschmerzen zu lindern, hatte ihr Dr.   Schacham viermal täglich Nurofen verordnet, und sie, gehorsam, wie sie war, befolgte die Anweisungen ihrer Ärzte. Aus diesem Grund hielt sie sich seit einigen Tagen bis ein Uhr nachts wach. Die erste Tablette nahm sie um sieben Uhr morgens ein, wenn sie aufwachte, die zweite zum Mittagessen um ein Uhr, die dritte um sieben Uhr abends, eine Stunde vor den Nachrichten, und die vierte – ein Uhr nachts. Hätte der Arzt ihr keine vierte Tablette verschrieben, würde sie bereits um zehn Uhr zu Bett gehen. So hatten Sefi und sie es die letzten zwanzig Jahre gehalten. Ihre Tochter Ruthi meinte, sie solle sich doch den Wecker stellen, aber darauf vertraute sie nicht. Und was wusste Ruthi schon von Schmerzen?
    Sie nahm ihre Tablette ein und spülte sie rasch mit einem Schluck Wasser hinunter. Da hielt sie inne und stand kerzengerade da. Sie hörte etwas von draußen. Unten im Hof war etwas im Gange. Bestimmt die Katzen. Jeden Morgen ging sie nach unten, um ihnen Milch zu bringen, und zur Mittagszeit bekamen sie Knochen. Wahrscheinlich fochten sie wieder ihre Rivalitäten aus. Mürrisch schüttelte sie den Kopf, drückte das Fernglas an die Augen und stellte auf Nachtsicht.
    Für einen Moment glaubte sie, sie wäre nicht bei klarem Verstand. Doch nein. Das dort unten waren keine Katzen, sondern zwei Leute. Ein Mann und eine Frau. »Wie die Karnickel«, murmelte sie vor sich hin. Aber wieso eigentlich »wie«? Karnickel! Angewidert verzog sie das Gesicht. Auf dem Arm des Mannes sah sie eine große Tätowierung, vielleicht ein Drache, das war ja noch abscheulicher. Überall trieben sich heutzutage Grobiane und Ganoven herum. Selbst in ihrem Viertel. Widerwärtig. Dennoch klebte sie mit den Augen am Fernglas, konnte sich dem Schauspiel nicht entziehen.
    Sie erfasste es nicht gleich. Sie war im Kopf nicht mehr so flink wie früher. Es dauerte ein Weilchen, bis die Einzelheiten ein Ganzes ergaben. Dann verstand sie mit einem Schlag: Das war kein Liebespaar. Der Mann vergewaltigte die Frau, hier, vor ihren Augen, im Hof des Hauses, in dem sie seit mehr als vierzig Jahren wohnte, einen Meter neben dem Benjamini, den ihr Sefi nach dem Einzug ins neue Heim gepflanzt hatte. Eine Hand presste der Mann auf ihren Mund, mit der zweiten hielt er ihr ein Messer an die Kehle. Sein Hintern bewegte sich schnell, ging in monotonem Rhythmus auf sie nieder. Jetzt begriff sie – das Jaulen, das sie zuvor gehört hatte, stammte nicht von den Katzen.
    Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Sie konnte beinahe am eigenen Körper spüren, wie der Mann mit seinem Gewicht auf ihr lastete, ihr die Luft abdrückte. Sie wollte etwas unternehmen, schreien, zum Telefon rennen und die Polizei rufen, der armen Frau helfen, die dort im Hof lag, doch sie tat nichts dergleichen. Stand nur am Fenster, erstarrt, vor Angst wie gelähmt.
    Plötzlich hielt der Mann inne, drehte den Kopf und blickte nach hinten, in ihre Richtung. Schnell trat sie ein paar Schritte zurück, ließ sich vom Dunkel der Wohnung verschlucken. Gänsehaut überkam sie. Wenn sie jetzt die Polizei riefe und sie ihn fassten, würden er oder seine Gangsterfreunde mit ihr abrechnen. Mit solchen Leuten durfte man sich auf keinen Fall anlegen. In dieser Verbrecherwelt hatte keiner Mitleid. Schon gar nicht mit einer alten Frau. Was sollte sie denn machen, wenn sie an die Tür klopften? Für solche Eskapaden
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