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Tag der Vergeltung

Tag der Vergeltung

Titel: Tag der Vergeltung
Autoren: Liad Shoham
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war sie zu alt und zu gebrechlich.
    Nein. Hier galt es, einen kühlen Kopf zu bewahren. Sich rauszuhalten.
    Sie ging ins Schlafzimmer, zog mit zitternden Händen die obere Schublade der Kommode neben dem Bett auf. Sie hatte Herzrasen. Sie griff nach den Nitroglyzerin-Tabletten, die ihr Dr.   Schacham fürs Herz verschrieben hatte, schob eine unter die Zunge und legte sich, das Fernglas noch um den Hals, aufs Bett. Jedem stand es zu, dass ihm ein Mal verziehen wurde. Außerdem hatte es vielleicht noch ein anderer Nachbar gehört, versuchte sie sich zu trösten, als der Schlaf sie mit seinen Armen umfing. Hier wohnten viele Leute. Die waren jünger und stärker als sie.

2
    Adi Regev war in Hochstimmung. Die Luft war angenehm warm, und das leichte Kleid umspielte ihre Beine. Sie kam gerade aus dem Pub in der Nähe ihrer Wohnung, wo sie sich mit den Mädels vom Yoga getroffen hatte. Sie hatten etwas (zu viel) getrunken, (über nichts) geredet, ein bisschen (zu viel) geklatscht, sich über ihre gruseligen Dates ausgetauscht und sich dabei vor Lachen gebogen. Nicht nur das: Ein Typ, der trotz Anzug – bei ihr eigentlich ein Tabu – toll rüberkam, hatte beim Gang zur Toilette Blicke mit ihr ausgetauscht. Kurz bevor sie gingen, war Assaf, so stellte er sich vor, auf sie zugekommen und hatte sie nach ihrer Telefonnummer gefragt. Sie! Nicht Efrat oder Michal, die einfach umwerfend aussahen. Sondern sie. Er hatte eine angenehme Stimme, ein süßes Lächeln, und was das Beste war: Michals neidische Blicke waren ihr nicht entgangen.
    Sie liebte Tel Aviv über alles, den Rhythmus der Stadt, die Möglichkeiten, die sich hier boten. Vor allem den alten Norden, in dem sie wohnte. Obwohl er im Stadtzentrum lag, vermittelte er das Gefühl eines authentischen Viertels. Am meisten mochte sie, wenn die jungen Leute am Samstagvormittag die Cafés stürmten oder in den Yarkon-Park radelten. Als sie vor zwei Jahren bei den Eltern in Chadera auszog, war sie unsicher gewesen. Vielleicht wäre sie einsam in der großen Stadt, im »Staat Tel Aviv«, wie man sie auch nannte, und würde als Provinzlerin abgestempelt? Doch ihre Bedenken hatten sich rasch in Luft aufgelöst. Sie hatte jede Menge Freunde und ging fast jeden Abend aus.
    Sie riss sich zwar bei ihren unendlich vielen Überstunden als Sekretärin in einer Steuerkanzlei in den Azrieli Towers den Arsch auf, doch sie ging feiern und musste gegenüber niemandem und für nichts Rechenschaft ablegen. Ihre Eltern (vor allem ihr Vater) waren darüber alles andere als glücklich. Sie wollten, dass sie studierte, etwas aus ihrem Leben machte, so wie ihr großer Bruder, der am Technion Ingenieurwesen belegt hatte, oder wie ihre ehemaligen Schulfreundinnen vom Gymnasium, die gerade unter Bücherbergen begraben waren und für die Prüfungen an der Universität oder Hochschule paukten. Im Moment gelang es ihr, alles Weitergehende aufzuschieben und die Ansprüche der Eltern auszublenden. Nicht einfach, angesichts der Tatsache, dass sie ihre Miete zahlten, doch sie setzte alles daran, sich ihre Freiheit zu bewahren und das Leben in vollen Zügen zu genießen.
    Sie nahm den schmalen Weg, der zu ihrem Hauseingang führte, und summte vor sich hin. Dank des Alkohols, den sie im Blut hatte, fühlte sie sich noch lebendiger und glücklicher. Morgen war Freitag – vor ihr lag ein Wochenende mit unendlichem Spaß. Vielleicht würde sich sogar etwas mit diesem Assaf ergeben.
    Hinter der Hecke raschelte etwas und durchbrach die nächtliche Stille, sie zuckte kurz zusammen. Bestimmt die Katzen von der komischen Alten aus dem Haus nebenan, sagte sie sich.
    »Wohnen Sie hier?«, hörte sie einen Mann mit angenehmer Stimme hinter sich fragen.
    Abrupt drehte sie sich um. Hinter den hochgewachsenen dunklen Dornensträuchern trat ein großer, dünner Mann hervor, er trug ein Basecap und eine Sonnenbrille. Sonnenbrille? Mitten in der Nacht? Ein Beben ging durch ihren Körper.
    »Oh, Sie haben mich erschreckt«, murmelte sie und machte einen Schritt rückwärts.
    Er trat näher, doch sie konnte ihn nicht richtig erkennen, da er das Basecap tief ins Gesicht gezogen hatte.
    »Warte einen Moment, Süße. Ich habe nur eine kurze Frage. Wohin gehst du jetzt?« Er klang freundlich. Zu freundlich. Es war höchste Zeit, die Flucht zu ergreifen, das spürte sie, aber sie war wie zur Salzsäule erstarrt, wie ein Tier, das vom Scheinwerferlicht geblendet wird.
    »Ah, gut, so ist es viel besser.« Er kam auf sie zu, war jetzt
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